Bericht über meinen fiktiven Tod

7. April
Nach dem Arztbesuch habe ich meinen Krankenschein abgegeben. Im Lohnbüro prüfte die Sekretärin ironisch den Beleg. Sah sie nicht, dass meine Augen brannten, dass meine Stirn glühte?
Mühsam schleppte ich mich nach Hause. Der Hinterhof warf graue Schatten in das Zimmer, die Kühle der Wohnung linderte den Schmerz meines Körpers. Ich legte mich ins Bett und sprach mit der grauen Häuserwand gegenüber.

8. April, Dienstagabend
Bis jetzt geschlafen. Es fällt mir schwer, meinen Körper zu bewegen. Die Glocken der Kirche läuten zum Abendgebet.
Risse in meinem Kopf.

Gleicher Tag, 21 Uhr
Ich hätte noch einkaufen sollen. Im Haus ist nur etwas Brot, etwas Butter und einige Krümel Tee.
Beim zweiten Versuch ist es mir gelungen, aus dem Bett zu kommen. Die Kraft fehlt, und so habe ich mich torkelnd in die Küche getragen, die Stirn gekühlt und gegessen.
Wieder auf dem weißen Laken wird mir bewusst, dass ich allein bin und mich in den nächsten Tagen niemand aufsuchen wird. Ich liege auf dem Rücken und starre durch die Decke in die Wohnung über mir. Dort spielt ein Liebesfilm im Fernsehen. Ich bin allein, habe auch vergessen, die Medikamente von der Apotheke abzuholen.
Das Fieber steigt.

9. April, Mittwochmittag
Schweißgebadet aus einem Traum geschreckt. Ich stand brennend auf der Leiter und strich die hässliche, fensterlose Wand des Hinterhofes mit Farbe an. In den Töpfen war sie lustig bunt, doch sobald der Pinsel den grauen Putz berührte, wurde die Farbe schwarz. Der Auto waschende Mieter warf mit dem Chromglanz nach mir. Ich bin der alte Mann mit den faulenden Beinen, der den Schubkarren zieht, auf allen vieren sitze ich darinnnen und kläffe durch die Stäbe des Wagens die Sonne an.
Der Wecker hat aufgehört zu ticken.
Ich weiß nicht mehr genau, wie spät es ist. Aus meinem Fenster kann ich die Sonne nicht sehen.
Der Wasserhahn tropft.
Das Gehen fällt mir immer schwerer. Das Brot und die Butter habe ich an mein Bett gestellt. Die Beine versagen den Dienst. Ich habe kein Gefühl für den Raum. Zweimal hingefallen. Die schmerzloseste Art der Fortbewegung ist Kriechen, und so krieche ich zur Toilette.
Die Nacht macht mir Angst. Ich höre Schritte auf der Treppe. Auf meiner Etage kommen sie zum Stehen. Stille. Mein Nachbar ist nur gekommen.

10. April
Sehr zeitig aufgewacht. Obwohl ich ausreichend zugedeckt bin, friere ich. Draußen ist es merklich kühler geworden. Das ohnehin magere Licht fällt noch spärlicher in die Wohnung. Es regnet und schneit abwechselnd. Ich habe keine Kohlen oben.
Zum Teekochen brauche ich eine Ewigkeit. Das Glas ist schwer, ich löffle den Tee. Er bringt etwas Wärme. Erschöpft krauche ich unter meine Bettdecke.

Gleicher Tag, abends
Ich könnte weinen und lachen! Das Teetrinken am Morgen war so anstrengend, dass ich danach sofort einschlief und erst jetzt aufgewacht bin. Während der ersten Tage habe ich mich auf den Schlaf gefreut, ich glaubte an eine Besserung nach dem Erwachen. Aber mein Zustand verschlimmert sich. Das Fieber lässt nicht nach. Die Kerze auf dem Tisch wirft ihr vertrautes Licht auf das letzte trockene Brot. Sehnsüchtig warte ich auf den Türgong. Doch alles schweigt. Ich schreie, schreie. Die Wände verschlucken geduldig jeden Laut. Ich singe ein Lied: „Auf einem Baume in unserem Garten, da sitzt ein Amselchen, der schwarze Peter, der singt so schön, singt immer tirilirili, singt immer tirilirili, der schwarze Peter, der singt so schön…“
Ich weine. Die Tränen verbrennen meine Wangen.

11. April, Freitag
Ich hoffe, es ist Freitag. In dieser Nacht hatte ich einen guten Traum. Ich war wieder der kleine Junge von einst. Ich spielte hinter dem Haus meiner Großeltern im Sandkasten, vergrub Kastanienknollen und wartete, bis daraus richtige kleine Bäumchen wuchsen. Zwischendurch saß ich in Johannisbeersträucher gedrückt vor einem Feuer und beobachtete meine Großmutter beim Nudelrollen in der Küche. Als ich aufwachte, hatte ich Lust, in das kleine Wäldchen zu gehen und nach meiner selbst gepflanzten Birke zu sehen, doch ich lag in einer kalten Wohnung, mitten in Berlin auf einem Hinterhof. Schnell schloss ich die Augen und erträumte mir einen heißen Sommertag, in sattem Grün stehende Parks und freundliche Menschen mit einem herzlichen Lachen.

14. April, Montag
Heute wäre die Vorstellung beim Arzt. Ich kann nicht mehr Gehen. In einem kleinen Spiegel habe ich gestern mein Gesicht betrachtet. Meine Wangen sind eingefallen, die Lippen farblos, und das Weiß in den Augen ist jetzt rot, der Blick stumpf. Ich habe aufgehört, auf eine Linderung zu hoffen. Der Gedanke, wieder gesund zu werden, wird mehr und mehr zur Illusion.
Ich liege auf dem Rücken und weiß nicht mehr, wann ich träume.

17. April, Donnerstag
Bin ich wach? Ist es Tag oder Nacht? Ich höre nichts mehr, ich sehe nichts mehr. Ich warte auf nichts.
Der Wasserhahn tropft.

21. April, Montag, 10 Uhr
Zwei Wochen eingeschlossen. Zwei Wochen Schweigen.
Ich warf die Decke zurück, sprang aus dem Bett, zog die Hausschuhe über und holte aus der Werkzeugkiste einen stabilen Haken. Ich stieg auf den Stuhl, schlug den Haken in die Wohnzimmerdecke und befestigte daran die Wäscheleine. Das untere Stück knüpfte ich zu einer Schlinge, steckte den Kopf hindurch und kippte den Stuhl beiseite. Gegen 10.14 Uhr pendelte mein Körper langsam aus. Das letzte, was ich hörte, war das Tropfen des Wasserhahns.
Um 10 Uhr machte sich eine Brigadeabordnung auf den Weg, um den obligatorischen Krankenbesuch zu erledigen. Aus der gemeinsamen Kasse entnahm man zwanzig Mark und kaufte dafür Blumen, Zigaretten und Schokolade.
Um 10 Uhr brach die Sonne durch die Wolken, spielten Kinder mit dem Ball, verkaufte die Zeitungsfrau an der Ecke die letzte Tageszeitung. 1981

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