Die Stimme


Es ist die Bürobahn, 7.15 Uhr, mit der Ruth fünf Mal die Woche von der Endhaltestelle der U-Bahnlinie E in die Innenstadt fährt. Dort befindet sich die Firma. In der zweiten Etage des Gebäudes – Zimmer 208 – ihr Schreibtisch mit Akten und Terminkalender. Im Vorzimmer tippt die Sekretärin bereits die ersten Briefe. Spätestens zur Begrüßung nimmt Ruth die Haltung einer erfolgreichen Leiterin der mittleren Leitungsebene an, nicht unfreundlich, jedoch auf Distanz bedacht. Nach dem Gruß tritt zwischen ihr und ihrer Sekretärin sofort das unüberwindliche Schweigen ein. Die Sekretärin tippt weiter ohne zu versäumen, die Garderobe und die Frisur ihrer Chefin mit einem messerscharfen Seitenblick zu erfassen.
Hat Ruth endlich die Tür hinter sich geschlossen, muss sie einen Moment verharren, schwer durchatmen. Der Weg an der Sekretärin vorbei ist ein Spießrutenlauf, dessen Erfolg oder Misserfolg über den weiteren Tag entscheidet. Ruth mag die Frau im Vorzimmer nicht,, genauso wenig das eigene Büro, 10 Jahre Gewohnheit hatten ihren Platz in der Firma und ihre Arbeit freundlicher werden lassen und läutet am Morgen das Telefon, würde sie endgültig zu der Frau, die als Rädchen des großen Ganzen alle Erwartungen erfüllt. Die Ruth ist für Stunden vergessen, hier heißt sie Abteilungsleiter Schuhmann, eine Frau, die ihren Mann steht, wie die Kollegen Direktoren gelegentlich gewisser Anlässe stets festzuhalten pflegen.

Der Heimweg am Abend vollzieht sich in umgekehrter Reihenfolge. Meistens erreicht sie die 17- Uhr-Bahn, denn sie vermeidet es, Überstunden zu machen oder sich länger als notwendig in der Innenstadt aufzuhalten. Ruth mag Zwischenfälle nicht, die sie aus dem gewohnten Rhythmus herausreißen und ihr Leben durcheinander bringen könnten. Sie liebt es, in ihrem inneren Rapport mit fünf Worten auszukommen: Sämtliche Störfaktoren ausgeschaltet – Kollegin Schuhmann!
Das denkt sie nicht ohne Ironie, aber dass sie nicht die einzige mit diesem Faible ist, beweisen ihr die Fahrgäste während des Morgen- und Abendtransportes.
Früh sind es, bis auf wenige Ausnahmen, dieselben wie am Abend. Mit der Zeit kennt sie jeden und fehlt einmal etwa der etwas aufgedunsene Mann, der so entsetzlich nach Schweiß riecht und dem die Brille immer auf die Nasenspitze rutscht, macht sie sich ihre Gedanken –obwohl sie seine Nähe nicht ertragen kann. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen oder er liegt krank im Bett, Herzinfarkt, tot, wer weiß oder sollt er einfach nur die Bahn verpasst haben? Sie kann sich fast jeden Tag sicher sein, einen Platz außerhalb seines Dunstkreises zu erwischen. Doch diese Sorge ist unbegründet, denn er sitzt grundsätzlich rechts neben der Tür und sie immer in der Mitte des Waggons. Gegenüber breitet sich eine vielleicht fünfzigjährige Frau aus und strickt und strickt, seitdem sie ihr das erste Mal aufgefallen war, beim Stricken.
Seit Jahren sind es Kindersachen. Allmählich müssen sie groß geworden sein, die Enkel. Früher waren es Mützchen, Babyschuhe, und heute sind es Strickjacken für einen ABC-Schützen.
Auf einen Platz Abstand zu Ruth hält der etwas fahrig wirkende Mann, Ende Dreißig mit spröden Händen wie immer seinen Diplomatenkoffer krampfhaft fest, so als habe er geheime Materialien in der Tasche. Immer im Anzug, leicht abgetragen aber sauber, mit blank gewienerten Schuhen, durchbohrt sein Blick nervös die anderen Fahrgäste. Als Ruth ihm noch schräg gegenüber saß, fühlte sie sich von seinen Blicken regelrecht ausgezogen bis sie zurückschaute und er sofort anfing, an seinem Koffer zu hantieren. Sein Gesicht wurde rotfleckig. Gewichtig öffnete er den Koffer und holte die Zeitung hervor. Nachdem er den Diplomatenkoffer wieder geschlossen hatte, sah er sich prüfend nach allen Seiten um.
Das machte Ruth neugierig und sie wechselte den Platz, nur um einmal einen Blick in das schwarze Geheimnis zu werfen. Erst nach Wochen gelang es ihr und nur für einen Augenblick. Sie erspähte eine Brotbüchse, eine Malerbürste und einen Blaukittel. Als der Mann sie beim Spionieren ertappte, wechselte seine Gesichtsfarbe ins Tiefrote und er fehlte eine Woche in der 7.15 Uhr – Bahn.

Ruth hat kein Geheimnis. Ihr Leben ist geordnet. Vor einem halben Jahr fand ein zermürbender Kleinkrieg in einer Ehescheidung sein kinderloses Ende. Seitdem bewohnt sie allein eine kleine, gut eingerichtete Wohnung. Jeden Monat gibt es einen Theaterbesuch mit einem alten Schulfreund, der es sich noch immer nicht nehmen lässt, bei einer anschließenden Flasche Wein in einem kleinen Restaurant nahe des Theaters das Angebot auf Liebe und Geborgenheit zu erneuern. Ansonsten bleibt sie allein zu Haus, geht zeitig ins Bett. An den Wochenenden pflegt sie das ihr zugesprochene Gartengrundstück.
Ruth findet selbst, dass sie bis zur Rente versorgt ist.

Wieder nähern sich aus dem Schwarz des U-Bahnschachts die beiden Lichter des Zuges und wieder überkommt Ruth dieser Schauer – was wäre wenn, denkt sie, tritt einen Schritt zurück und gibt acht, dass ihr der Fahrtwind nicht die Frisur durcheinander bringt.
Niemals würde sie es tun. Obwohl, ihre kleine U-Bahnfamilie würde vielleicht dadurch aus ihrem Trott geraten und zumindest für ein-zwei Tage ein verbindendes Gesprächthema haben. Aufregung wäre, Durcheinander, Verspätung. Für eine Stunde würde der Verkehr ruhen. Aber warum ausgerechnet sie?

Als die Türen zuschlagen und sich der Zug in Bewegung setzt, tönt eine Stimme durch die Lautsprecheranlage. Eine warme und herzlich klingende Stimme, geschlechtlich undefinierbar, weder Mann noch Frau, eine Stimmlage, die sie zugleich ruhig macht und erregt. Genau dasselbe Gefühl hatte sie, als ihr Mann sie das erste Mal ansprach, sie bat, ein Tasse Kaffee mit ihm zu trinken. Sie fühlt sich zu dieser Stimme hingezogen, obwohl sie nur eine gute Fahrt und einen erfolgreichen Tag wünscht. Für eine Stationsansage etwas ungewöhnlich, fast zu persönlich. Diese Stimme sät Heiterkeit, man lächelt einander zu und wartet, schaut hinauf zum Lautsprecher, bis sich die Stimme erneut meldet. In zwanzig Minuten genau zwölf Mal.
Die U-Bahnfahrten werden für Ruth spannend. Schon auf dem Weg zur Bahn überlegt sie, ob sie auch heute die Stimme hören würde. Bereits nach einer Woche wird Ruth eifersüchtig auf die anderen Passagiere, die, wieder in Gleichgültigkeit versunken, die Ansagen als Gegebenheit hinnehmen.
Am Montag darauf fehlt die Stimme. Spätschicht? – überlegt Ruth und bleibt eine Stunde länger im Büro. Sie will eine leere Bahn nehmen, um ungestörter die Stimme zu hören, vertreibt sich die Zeit mit Arbeit, und sie hat Glück.

Schnell findet Ruth den Rhythmus der wechselnden Schichten heraus und richtet es ein, dass die Stimme sie fünf Tage in der Woche begleiten kann.
Allmählich formt sich zu der Stimme ein Körper, ein Gesicht – ein Mensch, sinnlich, mit zarten Händen, nicht groß aber schlank und vor allem verständnisvoll… Das Gegenteil ihres geschiedenen Mannes, in dessen Armen sie sich nur hilflos fühlte, dessen Worte sie klein machten.
Von der Stimme fühlt sie sich angenommen, sie schien zu sagen: Du bist Ruth, eine Frau.
Ruth versucht, die Gestalt in der Fahrerkabine zu erfassen, doch es ist zu dunkel, und die Bahn fährt zu schnell, als dass sie mehr als einen Schatten wahrnehmen könnte.
Vielleicht sind Ruths Versuche, hinter das Geheimnis der Stimme zu gelangen, nicht zwingend genug, sie bleibt in ihren Bemühungen inkonsequent, vielleicht aus Furcht vor einer Enttäuschung, vor einer Wirklichkeit, die ihren Traum zerstören würde.
So kommt es nur zu einem Brief an die Lokalzeitung, in dem sie den freundlichen Fahrer lobt, ohne jemals wirklich mit einer Antwort zu rechnen.

Ein halbes Jahr nimmt Ruth die Vorzimmerhürde mit Leichtigkeit. Die Stimme hat ihr die Unsicherheit genommen. Einige Kollegen ließen bereits in das fachliche Lob Komplimente einfließen, die Ruth aufblühen ließen. Sie hatte sich verändert. Durch die Überstunden kam sie noch besser mit ihrer Arbeit voran.
All das geht Ruth heute Morgen durch den Kopf, als sie auf dem Weg zur U-Bahn ist. Die Stimme ist zum Bestandteil ihres Lebens geworden, sie hat ihren Platz in Ruths Leben gefunden, als Teil ihrer Ordnung, gefahrlos fern, ohne zu beunruhigen.

Pendelverkehr. Gerade heute, wo gleich zu Beginn eine wichtige Besprechung auf Ruth wartet. Pendelverkehr, ohne Vorankündigung! Heute, gerade heute, wird sie zum ersten Mal zu spät kommen. Von den Mitfahrenden fischt sie einige Wortfetzen auf: Verunglückt – hätte sich eine andere Zeit aussuchen können – bringt alles durcheinander. Auf der Strecke muss etwas passiert sein. Ruth hört die bekannte Stimme sie auffordern, auszusteigen und vom gegenüberliegenden Gleis weiterzufahren. Ruth steht auf dem Bahnsteig und sieht auf die Uhr, bereits fünf Minuten verloren! In diesem Moment hört sie das Klappern von Schlüsseln. Die Fahrer laufen von einem Zugende zum anderen. Hinter sich hört Ruth ihre Lautsprecherstimme, etwas weniger sanft, etwas höher im Tonfall. Ruth schaut den beiden an ihr vorübergehenden Frauen ins Gesicht.

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