Im Sucher

Ich der Überwachte, was musste ich nicht alles ertragen? Verfolgung, Beobachtung, Bespitzelung. Vor meiner Haustür haben sie gestanden, im sechs Wochenrhythmus, in dieser Zeit dann auch Tag und Nacht. Das mehrmals im Jahr, auf Schritt und Tritt.

Während eben solch eines operativen „Vorgangs“ wollte ich zu deiner Hofparty, mein Dissidentenfreund. Mein Schatten folgte mir, auffällig, stets in Hörnähe bis auf den Innenhof deines Wohnhauses. Er gab sich noch nicht einmal Mühe, unerkannt zu bleiben. Du hattest den Grill schon angeworfen. Mein Schatten blieb stehen und glotzte nur dumm. Du hattest mich und meinen „Begleiter“ kommen gesehen. Du verdrehtest die Augen und, nicht ohne Dissidentenstolz, zeigtest du mit einer abfälligen Kopfbewegung auf ihn: Schau dir das an, jetzt führen die schon meine Leute zu mir auf meinen Hof, sieh mal hinter dich. Der will zu mir! 

Da wollte ich dir sagen, aber das ist diesmal doch meiner. Ich hab’s gelassen, denn diese Form der Beachtung machte dich ja auch stolz. Mich aber auch, selbst wenn’s deiner war. Allein in deiner Nähe zu sein, dich zu kennen! Welch Ritterschlag. Ich fühlte mich so besonders, mit meinem Schatten bei dir, auch wenns plötzlich deiner war. Nach unserem abschätzigen Ausruf: „Hey, was glotzt Du’n so blöd“, trottete er langsam wieder vom Hof und blieb wahrscheinlich draußen vor dem Hauseingang stehen, um die ankommenden Gäste zu beobachten. 

Es war immer was los bei dir, spannend war’s zudem, irgendwie eventartig. Viele Westkontakte sprangen bei dir herum, selbst meine Freundin aus Westberlin lernte ich so kennen, sogar bedeutende Westjournalisten wichtiger Leidmedien gehörten zu deinen ständigen Besuchern, auch Ausreisewillige. Deine Hoffeste waren in der Flüsterküche der Stadt berüchtigt.

Du Tristessfototgraf! Offiziell wurdest du zu Recht der Zeitzeuge des Abgesangs einer Gesellschaftsidee, bedauerlicherweise hast du dich zum Leader der Unterdrückten aufblasen lassen. 

Das Problem dabei ist leider, das war nur das Land durch deinen Sucher, das du sehen wolltest!

Sicher wichtig, doch eben nur eine Perspektive – eine gewisse Wut und einen Urhass aus Jugendtagen auf das System hatte ich zudem bei dir erkannt. Und nun? Deine Fotos werden für die Dämonisierung oder zur Diskreditierung einer kompletten Gesellschaftsidee benutzt, anhand eines schief gegangenen Modells. Als Karikatur deiner Selbst spielst du mit und lässt es dir gut gehen.

Nach dem die eine Gesellschaftsidee von einer viel mächtigeren Kapitalidee gefressen worden war, fragte ich dich einmal, warum du jetzt, da wir alles überstanden haben, den Elenden, Verzehrten, den aggressiv blickenden Polizisten, die dumpfen Gesichter nicht genauso wie früher fotografieren würdest. Du: das ist so schwierig geworden, ist alles so schön bunt jetzt und außerdem dürfen Fotografen nicht mehr ungefragt fotografieren dürfen. Ist doch verboten.

Dürfen aus deinem Mund, ein absolutes Unding.

Viele neue Arbeiten, die so sezierend kritisch sind wie damals, habe ich leider in den 35 Jahren, die inzwischen vergangen sind, nicht von dir gesehen. Nur immer wieder die alten Sachen. 

Nach Hofpartys oder Instruktionstreffen, wenn der letzte Westkontakt gegangen war und wir unter uns waren, begann unter uns ostzonalen Aufrechten, Aussteigern und Andersdenkenden das Dissidentengefasel über drangsalierte Kreativität, über Fotografie, das Schreiben und natürlich die Zensur, und dann noch später, sehr bierschwer schon, unser Palaver über den Scheiß Staat, die da oben eben, wie die unsere Gedanken kontrollieren wollen, uns gängeln, total überwachen; und überhaupt, diese dümmlichen Spitzel, die blöden Genossen, diese feisten Bonzen, ach, der dumpfe Alltag und dieses immerwährende Grau in Ost-Berlin. 

Ausreisewillige erzählten über die Sauereien, die sich der Staat mit ihnen wieder geleistet hat.

Natürlich gehörte das nicht enden wollende Betrachten deiner Arbeiten vornehmlich zum Huldigungsritual. Dein ausschweifendes Reden, was du bei diesem Bild gesehen, gedacht, dir widerfahren ist, ließ nur eine Schlussfolgerung zu: du bist genial! Die Bewunderung war für uns Satelliten die Eintrittskarte, dass wir wahrgenommen wurden von dir.

Du warst die Kontaktbörse, der Hüter und Verteiler maßgeblicher Westkontakte. Ich sonnte mich in deiner Gegenwart. 

Wenn ich bei deinen Stadtgängen dabei war, fühlte ich mich auch gleich wichtig, konnte dir Tipps bei der Motivauswahl geben, durfte dir assistieren. Mit dir das Land ungeschminkt darstellen, lächerlich machen, eben dieses andere nicht gezeigte Gesicht, die Fratze des Sozialismus in den Westen schreien.

Hey Fotoakrobat, ich war auch dabei und ich weiß genau, es war überwiegend lustig in dieser Szene. Unser Dissidentenleben – Alkohol, Frauen, gegen den Staat diskutieren und die ständige Beobachtung und Kontrolle, ohne die hätte etwas gefehlt in unserem Selbstverständnis, die war die Würze unseres Alltags in dem zu klein geratenen System, das du hasstest und ich nicht mochte. Und mal ein Verhör in der Keibelstreet garantierte Mitgefühl und Respekt unter den Bekannten. Und gar nicht zu verschweigen, hier und da mal im Westen veröffentlichen, brachte ehrfurchtsvolle Anerkennung und auch das Westgeld. Und heute bist du als Verfolgter berühmt, zur  Ikone der Dissidentenszene aufgebläht. Weil du dich mit dem neuen System arrangiert hast und ich das nicht wollte. Zu allen möglichen DDR-Themen lässt du dich als Zeitzeuge benutzten. Du läßt dich zu einseitigen Statements über das damalige Leben hinreißen, wie schlimm es war mit der Unfreiheit im Osten. Zu speziellen Feiertagen oder Anlässen oder wenn die antisozialistische Stimmung angeheizt werden muss, wirst du vor Kameras gezerrt als Augenzeuge mit deinen Unterdrückungsstorys benutzt: Ganz nach dem Anlass, medial weichgespült, auf die politische Stoßrichtung zurecht geschnitten, erzählst du deine Episoden in der x-ten Variante. Ich habe das Gefühl, du läßt dich benutzen.

Du bist inzwischen der graugewordene Beleg für den Unrechtsstaat DDR.

Sei doch einmal ehrlich zu dir, war nicht ein Grund unseres Aufbegehrens, dass wir keinen Platz an der Privilegientheke des Systems bekommen hatten und wir deshalb eine eigene, bessere aufgemacht haben? So ähnlich ist es heute auch, nur eben anders. Und wem Ellenbogen oder putziges Gebaren im Auftreten fehlen, der findet keinen Platz.

Und überhaupt, Dissis wurden Tag und Nacht verfolgt,
Dissis diskutierten bis zum Morgen, 
nicht die Folgen ihres Tuns.
Liebe war Ersatzfreiheit.
Dissis wissen heute sicher,
Stasi hatte eigenen Busverkehr.
Dissis obduzieren Aktenleben, vergangenheitsbesessen.
Dissis haben Akten schwer.
Tag und Nacht sind sie dabei, die Dissis, 
Bio-Laden, Kasse 3, 
Veggiefleisch ist auch dabei.
Oder Flatrate bei Yvonne?
Friedlich, himmlisch, nun ihr Biotop.
Dissis lassen sich hofieren, 
ständig als Pokal polieren, erinnern an den Unrechtsstaat,
es ist so fad.
„Always Look on the Bright Side of Life“ 
09.07.2019/20

1 Keibelstreet: Keibelstraße am Alexanderplatz, Sitz des Polizeipräsidiums Ostberlins und Untersuchungshaftanstalt




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