Jazz


Der Sommer 05 hatte sich auf Hitze festgelegt und dementsprechend heiß war auch der 19. August. Selbst eine Eidechse wäre nicht feiwillig unter ihrem Stein hervor gekrochen. In der Stadt stank es nach Abgasen und Schweiß und es war staubig und schwül. Die Luft klebte auf der Haut.
Conny Bauer hatte an diesem Tag zu einem Jazzkonzert am Abend direkt vor dem Pergamonaltar geladen. Und kunstbeflissenes Bildungsbürgertum war erschienen und wartete im Vorhof des Museums auf den Beginn. Die Besucher wirkten sehr entspannt, zweifellos waren es Menschen von der sicheren Seite. In ihren Gesichtern stand Gleichmut und Zufriedenheit. Sie trugen weiße Leinenanzüge, Sommerhüte, legere Seiden- oder Baumwollkleider, kunstvoll einfach.
Die Heiterkeit von edlem Parfüm stimmte mich mild.
Leicht erschien mir dieser Abend und meine Begleiterin und ich waren Teil dieser Szenerie!

Einige der Konzertbesucher zählten bestimmt schon in den sechziger oder siebziger Jahren zum Stammpublikum des Jazzclubs „Große Melodie“ im Alten Friedrichstadtpalast. Der Jazzposaunist, Conny Bauer, war auch einer von damals. Er, der in meiner Jugend mit seinem Instrument am meisten experimentierte, der Jam Man, er gab meiner Sehnsucht damals die Musik.
Dabei führte mein Weg nicht ganz freiwillig zum Freejazz. Es war einfach nur ein Zufall, der ich diese Konstante in meinem Leben verdanken darf. Bis dahin hörte ich bestenfalls die Beatles oder die Rolling Stones, falls sie denn im Radio überhaupt gespielt wurden.
Zunächst begeisterte mich Freejazz, weil er unheimlich schräg, unangepasst und rebellisch klang. Außerdem lernte ich auf den Konzerten neue Freunde kennen und die waren so vollkommen anders als die aus meinem bisherigen Bekanntenkreis. Auch ich wollte anders sein, ähnlich wie sie. Wie genau wusste ich damals noch nicht. In jedem Fall hatte ich auf den Jazzkonzerten ein mächtig gutes Gefühl! Je schräger die Musik klang, desto besser war sie für mich! Der Jazz befriedigte meine Sinne, er verstand mich. Erst später entwickelte sich aus der anfänglichen musikalischen Rebellion der Fallstrick für meine geplante Karriere.
Und jetzt war es fast wie damals. Nur alle waren um 30 Jahre gealtert, mit eindeutig mehr Geld ausgestattet und der Rahmen, die Kulisse war heute gediegener, exklusiver!
Die Haare der Männer waren meist schütterer, die Bärte grauer und weite Hemden kaschierten ihren Bauchansatz, ebenso umspielten weite Kleider die Problemzonen der Damen. Sie standen in Gruppen oder saßen auf Bänken, lehnten entspannt an den Sockeln antiker Skulpturen und plauderte miteinander. Man war gelöst, entspannt und sehr zufrieden, unter so vielen Gleichgesinnten zu sein. Conny Bauer stand auch bei den Gästen und unterhielt sich mit ihnen. Es erinnerte an ein Familientreffen.
Schließlich öffneten sich die Türen. Und obwohl noch Zeit bis zum Konzert blieb, gingen meine Begleiterin und ich schon hinein.
Was für eine beeindruckende Kulisse! Kriegerfratzen am großen Relieffries, Kampf der Götter und Giganten. Tanz monumental am Pergamonaltar.
Göttermarmor. Wohltemperierter Raum. Milchglasdecke. Sommerabendheiterkeit lag in der Luft.
Vor der großen Freitreppe des Altars verloren sich die vielleicht nur hundertfünfzig Sitzplätze für die Zuhörer.
Als Conny bereits oben auf dem Wandelgang zu sehen war, eilte eine Frau zu dem freien Platz neben mir. Dieses markante Gesicht, dieses Kinn, das eher zu einem Mann gehörte als zu einer Frau, wie sie die Lippen aufeinander presste, ihre Unruhe – kein Zweifel, sie musste die Frau aus dem Haus meiner Jugend sein! Damals fuhren wir oft gemeinsam mit dem Fahrstuhl zu unseren Etagen. Nur ein knapper Gruß, mehr nicht. Ein Gespräch zwischen uns gab es nie. Überhaupt redete in unserem Haus kaum Einer mit dem Anderen. Man schwieg bedeutend nebeneinander her.
Wieso kann ich mich dann so gut an sie erinnern?
Im Haus der tausend Staatsdiener fiel sie allein durch ihr Äußeres auf, so ohne Kostüm, die Haare sportlich, ungelockt, das Gesicht ungeschminkt. Sie wirkte immer in Eile, sehr distanziert. Sie war fahrig und machte einen irgendwie gehetzten Eindruck. Sie schien mir nicht so richtig daheim in meinem Haus, in diesem Beamtensilo, wie es mein Vater selbstironisch nannte. Mochte sie uns andere Bewohner etwa nicht? Oder lebte sie nur einfach in ihrer eigenen Gedankenwelt? Ich weiß es nicht zu sagen.
Nie erlebte ich sie freundlich. Sie schaute nur geradeaus, sah keinem ins Gesicht und ich, ein Teil der anderen, lächelte blasiert, weil ich meinte, ihr überlegen zu sein. Erst später, als ich begann, selbstständig zu denken, wurde ich in diesem Haus selbst zu einem Fremdkörper, so mit langem Haar und Parka, flower-power artig aus dem Rahmen gefallen. Da war ich es dann, der die Abneigung der anderen Hausbewohner zu spüren bekam.
Jetzt saß diese Frau neben mir, äußerlich kaum verändert, wie ein Mensch, der seinen Geschmack in der Jugend gefunden und später nicht weiter entwickelt hat.

Stille. Oben auf der Freitreppe des Zeus-Altars stand jetzt schwarz gekleidet Bauer und blies in seine Posaune. Der Widerhall seines Instruments brach sich am Monument, schwappte gemildert über uns Zuhörer und bevor die Töne ganz versiegten, zauberte Conny Bauer neue Klangebilde.
Eine lange Zeit spielte er oben auf der Empore, schritt dabei maßvoll hin und her. Bauer nahm die Töne mit einem Mikrofon auf, betätigte ein Fußpedal für die Software seines Macintosh Powerbooks und setzte so dem Grundgeräusch ein weiteres obenauf, dabei malte er tierisch-menschliche Urlaute. Das alles wurde durch Lautsprecherboxen verstärkt.
Er spielte mit uns und dem Raum. Es schien, als füge er nur aus einer Laune heraus die Töne zu spröden Harmonien zusammen, die unschuldig und rein in einen absurden Dialog mit meiner Fantasie traten. Seine Musik schrie, weinte, bangte, sie kommunizierte mit meinem inneren Frieden. Er führte mich durch imaginäre Landschaften, sanftmütig und im nächsten Augenblick zwingend brutal. Ich wurde zum Resonanzkörper seiner Leidenschaft.
Er war und ich durfte sein.
Dann kam er mit Leichtigkeit die Stufen zu uns hinab, spielte selbstvergessen vor uns mit seinem Instrument, wendete sich nach einer guten Zeit wieder ab und stieg, immer noch die Posaune blasend, wieder die Stufen hinauf. Manchmal wartete er sehr lange bis jeder Ton wirklich verhallt war, um dann kraftvoll, intensiv, ja doch beinahe rhythmisch zu werden. Es war einfach nur schön.
Der Virtuose war sich selbst genug und wir, die Zuhörer, waren eigentlich nicht wichtig. Wir folgten seiner Interpretation von Glück.
Seine Magie packte mich, sie beseelte mich ganz und gar. Ich verfing mich in einem Geflecht aus Zeit und Raum. Mir war, als würden zwei Griechen im weißen Himation oben an die Säulen gelehnt, miteinander plaudern, wie in einem Film. Meine Gedanken rutschten in eine Trance aus Wohlempfinden und phantastischer Verknüpfung.
Eben noch in einem antiken Tempel, war ich plötzlich wieder 17, einer der noch nicht weiß, dass er auf der Suche ist und nur ahnt, dass Küsse mehr sein können als Jagdtrophäen des Triebes.
Zu jener Zeit hatte ich noch keinen Grund, über mich, meine Eltern oder mein Land nachzudenken. Als ein Heranwachsender war ich eben nur auf der Jagd nach Küssen und träumte vom ersten Mal. Es war so wie es war und es war gut so, denn unter den Fittichen meiner Eltern war ich eigentlich glücklich und zufrieden.
Doch dann kreisten meine Erinnerungen um den 25. Jahrestag der DDR, diesen 7. Oktober 1974. An diesem Tag wollte ich abends in die „Große Melodie“, eben zu einem Conny-Bauer-Konzert gehen, weil mir Tage zuvor ein Mädchen von Bauer, diesem Club und überhaupt von Jazz vorgeschwärmt hatte. Dieses Mädchen hatte ich bereits monatelang observiert, bevor ich beim Einkaufen endlich den Mut aufbrachte, sie anzusprechen. Abgehoben sprach sie von Dingen, die mir bis dahin vollkommen unbekannt waren. Natürlich ließ sie mich unsanft abblitzen. Sie war äußerst überheblich zu mir.
Nun hatte ich vor, sie durch mein Auftauchen in der „Großen Melodie“, ihrem Stammclub, zu beeindrucken. Ich wollte abends aus dem Haus, um diesen Jazzclub aufzusuchen, doch die Straßen waren für die Festdemonstration zum Jahrestag abgesperrt. FDJler im Blauhemd und mit Fackeln in der Hand marschierten, dazu Kampfmusik, und am Straßenrand standen euphorisierte Massen, sie strahlten und freuten sich offensichtlich. Das Wir-Gefühl tobte, und ich kam nicht über die Straße zu diesem Konzert.
Ziemlich verzweifelt landete ich deshalb an diesem 7. Oktober im Café „Tutti-Frutti“. Drinnen trübes Licht, voll besetzt, im Raum hing Pfeifengeruch. Das Publikum trug längeres Haar, Parka, derbe Wollpullover, über den Lehnen hingen selbst genähte Umhängetaschen. Sie diskutierten miteinander, die Köpfe zusammengesteckt, aufgeregt flüsterten sie. Als ich eintrat, unterbrachen sie kurz ihre Unterhaltung und taxierten mich flüchtig. Sie lächelten ohne Freude.
Von drinnen sah man den ewigen Fackelzug, hörte die Schlachtrufe, die Lieder. Nach einem Kaffee ging ich wieder hinaus und wollte nochmals versuchen, durchzukommen. Zwischen dem Café und der Menschentraube am Straßenrand lagen vielleicht zehn Meter. Ein betrunkener älterer Mann torkelte unbeachtet vor sich hin, blieb stehen, schaute sich um, schüttelte den Kopf und immer wenn er weiterlief, sprach er zu sich selbst: „ihr habt ja alle so recht“. Die Frau aus meinem Haus stand mit am Straßenrand, wie viele meiner Hausbewohner. Sie hatte sich leicht abgewendeten und lächelte ironisch.

Jetzt saß sie angespannt auf dem Platz neben mir. Conny Bauer setzte in diesem musikalischen Kampf der Götter und Giganten bereits zum furiosen Finale an. Der Gesang einer Posaune, in einen Augenblick hineingehaucht, gezittert und im nächsten Moment beinahe tumulthaft laut.
Mit seinem Klangcomputer legte er wieder Klangschicht auf Klangschicht, spielte Klangbogen für Klangbogen und steigerte so die Klangfülle ins Unerträgliche. Er ließ mich lügen und verraten, töten und leidenschaftlich lieben. Ich verlor und ich gewann. Und als es mir fast schmerzte, mein Atem schneller ging und er mein Empfinden in eine Katastrophe führte, löschte der Gigant mit einer sachten Fußbewegung alle Elektroklänge. Dabei sah er in unsere Gesichter und lächelte zufrieden. Für einen Moment war Stille. Doch bevor ich restlos aus meinen Gedanken geholt wurde, begann er ein unschuldiges, mich streichelndes Posaunensolo zu blasen und schritt dabei zu uns hinunter. Applaus.
Während wir uns alle wie kleine Kinder über und mit Conny Bauer freuten, applaudierten und bravo riefen, musste ich meine Nachbarin ansprechen. „Entschuldigen sie, wohnten sie nicht vor 30 Jahren in der…? Damals trug ich noch langes Haar, sehr ungewöhnlich für das Haus“, gab ich meiner Frage eine gewisse Richtung. Sie lächelte mich unpersönlich an.
„Auf welcher Etage haben sie gewohnt?“, kramte sie in ihrem Gedächtnis. Doch selbst der Hinweis auf das Stockwerk in Verbindung mit meinem Gesicht, löste keine Assoziation aus. Sie schaute mich ratlos an, schüttelte ihren Kopf. Mir schien, als bitte sie um Nachsicht: „Es tut mir leid, ich kann mich nicht erinnern.“, bedauerte sie und stand schnell auf und ging.
2006

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