Früh rasieren, Zähne putzen, eincremen, Haare kämmen, tag ein tagaus. Routine, ohne viel nachzudenken, lästig. Manchmal nur erkenne ich mich. Vergleiche dann mein Spiegelbild mit der Erinnerung. Bemerke Veränderungen. Sehe die Veränderungen seit dem genaueren Betrachten vor ein paar Tagen, Wochen? Etwas dicker geworden an den Kinnseiten. Die Augen wässriger, der Blick irgendwie stumpf. Das Lächeln fehlt. Und immer ist auch der Vergleich zum jungen Mann Anfang 20, der ich irgendwann einmal war. Bei dieser Erinnerung ist immer Wehmut dabei. Gewesen, vorbei, nicht vergessen. Vergleiche lieber die Monate. Ich versuche, meine Krankheit aus meinem Gesicht zu lesen. Sehe irgendwie normal aus. Könnte ein Passant sein, solange ich nur stehe und nicht gehen muss. Die Gewichtskontrolle auf der Waage ist schon schwieriger, denn ich muss ruhig drauf stehen, bevor die Elektronikanzeige ein Gewicht zeigen kann. Vertraute Eitelkeit. Zu schwer.
Doch vor dem Spiegel – ruhig stehen mein Freund! – nichts Verräterisches an mir zu erkennen. Beinahe normal. Muss allerdings den Mund geschlossen halten, denn durch das viele Kortison ist mein Kieferknochen brüchig. Er hält die Zähne nicht mehr. Sie wackeln und mußten mir schon teilweise gezogen werden.
54 Jahre. Bisher konnte ich mir immer sagen: Ich könnte wenn ich wollte. Das mit den Frauen, um die Häuser ziehen, Zukunftspläne spinnen zum Beispiel und so. Jetzt habe ich tief innen die Gewissheit. Es ist vorbei. Da passiert nichts mehr. Das mit den Frauen würde mich sowieso langweilen, erfahrungsbedingt. Außerdem bin ich da bestens versorgt. Nur noch der Versuch durchzuhalten und einigermaßen die Haltung bewahren.
Der Spiegel ist in tausend Teile zersprungen. Die einzelnen Spiegelscherben geben mich gebrochen wider. Irgendwie bin ich mir fremd.
Juni 2010