Nachsaison auf Hiddensee

Überfahrt

Fährhafen Stralsund. Abschied vom Festland. Hinter mir Berlin. Gedanklich kaum noch faßbar – der Sommer, der Smog, die Arbeit, Freunde, Partnerschaft, Politik, Standpunkte. Schwerfälliger Sonnenaufgang, blutrot. Klatschblauer Himmel. Empfindliche Kühle. Oktobertag acht Uhr morgens. Nachsaison.
Das Boot legt ab. Letzter Eindruck: Hansestadt mit Rissen. An Bord sieht man eine Handvoll Urlauber auf der Jagd nach Individualität, weit ab voneinander im Innenraum. Massentourismus ist kaum noch vorstellbar. Ich lache leise, freue mich, werde ungerecht. Mein Urlaub ist kein FDGB-Urlaub, kein Kampf um den Sitzplatz, die Entwirrung des Gepäckknäuels entfällt, zu den Mahlzeiten kein Wettlauf nach den besten Stücken. Auch das Heerlager am Strand gehört dem Sommer an. Ich will mich frei fühlen, den Augenblick lieben, mich selbst spüren, enthaltsam leben. Die Natur und ich in Harmonie. Die anderen stehen längst wieder an ihren Arbeitsplätzen. Nach der allabendlichen Hetze durch die Schlaraffenhallen garnieren die Delikatesserzeugnisse das Abendprogramm und bringen bald die behagliche Bettschwere. In der Kombüsenmitropa kaufe ich eine dicke Bockwurst und eine Tasse Kaffee, türkisch. Dabei zieht das letzte Stück Festland an mir vorbei. Auf dem Dach der Fähre stehen Bänke. Monotones Tuckern des Dieselmotors. Windstärke minus null. Badewannengeplätscher. Nebel. Theatermöwen umkreisen schreiend den Dampfer, stürzen plötzlich in die Tiefe, jagen den Fisch. Die Touristenarche wirft kaum noch etwas ab. Die See assoziiert Gesundheit, jeder Atemzug Heilung. Mürrisch nehme ich die gelben Schauminseln war. Giftiges Badespray in der städtischen Badewanne. Chemisch gereinigte Fische treiben tot an uns vorbei.
Neuendorf. Der südlichste Ort von Hiddensee ist erreicht. Das Land ist flach. Ein kleiner Hafen, dahinter ohne System weiß getünchte Häuser mit Schilfdächern. Ihre Giebel sind auf die Ankömmlinge gerichtet. Kein Zaun versperrt den Zutritt, und überall von den Schafen kurz geschorener Rasen.
Das Schiff hat wieder abgelegt. Bojen markieren die Fahrrinne. Rügen bleibt immer an unserer Seite. Auf der anderen, im selben Abstand, Hiddensee. Eine halbe Stunde trennt mich noch meinem Ziel. Die kleine Fährinsel ist passiert. Der Nebel hat sich gelichtet, war nur Weichzeichner. Dafür nun sanfter aber dauerhafter Regen. Vitte kommt in Sicht. Die Hügelkette im Norden wird schemenhaft preisgegeben. Dort, am Bodden entlang, muß Kloster liegen. Kulturelles Zentrum – mit Inselmuseum, Kirche und Gerhard-Hauptmann-Haus, nicht zu vergessen das Wieseneck, Café und Treffpunkt für Aussteiger aller Art. Freunde trugen mir Grüße auf, die ich an die unmöglichsten Adressen übermitteln soll. Finden könnte ich sie vor allem in diesem Café. Mir scheint es unwahrscheinlich, daß ich den oder die, sie alle auf Hiddensee treffen würde. Berlin ist relativ groß, aber ein Teil der jüngeren Generation kennt sich, zumindest vom Sehen. Sie heben sich wohltuend aus dem grauen Alltagsbild ab, bevorzugen dieselben, wenigen überhaupt noch annehmbaren Lokale, besuchen gleiche, immer seltener werdende attraktive Veranstaltungen, auf den zahlreichen privaten Wohnungsfesten sind sie ebenfalls präsent. Und immer und überall spürt man eine gewisse Zusammengehörigkeit. Aber ich wollte im Urlaub ausspannen, auf meiner Trauminsel. Wollte mich und Hiddensee erobern, nichts weiter. Deshalb habe ich keine Lust, irgendeinem Bekannten zu begegnen. Die Grüße nahm ich gar nicht ernst.

Ankunft

Endlich Vitte, mein Ziel, mein Zwei-Wochen-Asyl ist erreicht. Ich betrete die regenschwere Insel mit Stadtfüßen. Romantik komm aus dem Keller! Ich bin da.
1983/86

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