Der Versuch wegzulaufen


Quatsch, sinnloser Scheiß! Große Entschlüsse fassen – Sachen packen, ein Abschiedsbrief für mindestens drei Ewigkeiten, mit einem Pathos zum hinspucken – verfüge über die Wohnung, suche mich nicht, ich verlasse Berlin!
Meine Entschlüsse gingen meist in die Hose, diesmal war es ein gewaltiger Dünnschiss!

Obwohl, das Unterfangen war ehrenwert, die Motive glasklar. Abstand gewinnen – die tollste Zeit mit Christine war vorbei, das Gefühl sollte nur noch abgeschreckt werden. Sie kam nur noch selten nach Hause, die Stille ihrer Abwesenheit erschlug mich, das tagelange Warten ließ mich erstarren. – Endlich vergessen, die Schulen, Lesbierinnen, gefärbte Haare, Intellektuelle, Ballett und Tänzerinnen wie meine Christine, die schwarz gestylte Künstler- und Cafehausszene und dieses Nicht-Wissen-Wohin, die Alternative suchen, letztlich durcheinander bumsen. Niemand versteht niemand.

Ein rotes Tuch: Sex, Toleranz, Verständnis für alles, nur nicht für das eigene Gefühl. Berlin ist trotz medizinischer Behandlung krank. Kein Wunder, ständig wird nur Fieber gemessen, indes der Patient am Penis fault. Das hat etwas mit einem Tiger zu tun, der langsam in seinem Käfig blöde wird.

Außerdem brauche ich Ruhe zum Schreiben. Ich floh nach Halle. Nach meinen Erfahrungen mußte ich dort alles finden, was ich in dieser Situation brauchte. Dort wollte ich leben, den Augenblick lieben, enthaltsam den Reichtum meiner selbst, das Gute.
Diese Selbstreinigung begann mit einer stinknormalen Zugfahrt. Selbst der Schaffner wollte sich, ansonsten üblich, nicht mit mir anlegen. Mein walk-man hämmerte mir den Zeitgeist ins Hirn, damit ich nicht vergaß, wovor ich davon lief.
Und ich rannte ins offene Messer.

Zunächst die schönsten Grüße aus dem Chemiebezirk Halle, übermittelt mit der Gas- oder besser Totenmaske. Die Luft stank nach Karbid und Gummi. Die Augen brannten, der Staub rieselte über den ganzen Körper, giftig, radioaktiv, als Vereinigung aller Krebskrankheiten. Der Himmel war grau-gelb.

Damit wollte ich mich abfinden. Ansonsten könnte ich gleich aufhören mit Fleisch-, Gemüse- und Obstessen, trinken, atmen. Schreckgespenster, ich ignoriere euch, damit ich ruhig schlafen kann. Der Wald stirbt, Raketenlandschaft, tote Flüsse ohne Fische, Gestank, Abfall, alles wird sterben. Vertreib die Angst! Grünende Wiesen, Wälder, Quellwasser, Kühe auf saftigen Weiden – weicht den ökonomischen und politischen Notwendigkeiten! Also verinnerlichen wir uns lieber und bewältigen unsere Kindheit. Wir zerbrechen uns lieber den Kopf über die Pünktlichkeit am Arbeitsplatz, ganz zu schweigen.

Die Freunde in Halle studieren eifrig Formgestaltung und Architektur. Versuchen krampfhaft ein Glück der Zweisamkeit. Matthias: Heute habe ich keine Zeit. Ich liebe Gabi, entweder ganz oder gar nicht. Seitdem ward er nicht mehr gesehen. Sorgen bleiben grundsätzlich zu Hause. In der Gemeinschaft hat man fröhlich zu sein.

Nun gut. Rockspektakel. Bierzelte. Auch das war zu ertragen. Eine Frau spricht mich an. “Bist du vom Theater?”
“Nein, wieso?”
“Siehst so aus. Ich bin die Woitha und was machst du?”
Irgendwie kam mir das bekannt vor. Trotzdem antwortete ich. “Ich versuche zu schreiben, nur leben kann ich davon nicht. Suche eine Halbtagsstelle, vielleicht bleibe ich hier”:
Danach das übliche Bla, bla, bla. Interessant, interessant. Du paßt in die Welt.
Ich hätte mich am liebsten an meinem Ohrring festhalten wollen. Wahrscheinlich mußte auch sie sich festhalten – nur ausgerechnet an mir.

Vor einem Haus machten wir halt. “Hier wohne ich, ganz oben. Alles Leute vom Theater hier, Puppenspieler, Musiker und Tänzerinnen. Mit zu mir kannst du nicht. Mein Mann ist da. Ich mein, mit ihm habe ich nichts mehr zu tun, der schläft jetzt mit unserer Nachbarin”. Und nach kurzem Überlegen: “Laß, komm mit, wir müssen nur leise sein!” Ich ging mit.

Ihr verfluchter Kater zerkratzte mir die Hand. Ihr Typ war noch wach und hämmerte in seinem Zimmer unter scheinbaren Seelenschmerz auf dem Klavier, verstärkt durch 2×200 Watt Boxen.

Sie bereitete ein Lager auf dem Teppich. – Abenteuer, ihr macht mich müde! Plötzlich stand sie auf den Zehenspitzen, ganz kurz, ihre Körperhaltung verriet Tanz. Nein, nein, nein, nein, Berlin ist krank!
Eine Karaffe selbstgemachten Kirschweins rettete mich. Betrunken schlief ich ein.

Mein Kopf war schwer, der Morgen grau. Kein Frühstück, nur schnell raus wollte ich. Den walk-man aufgesetzt, damit ich nichts hören mußte. In der Küche stand ihr Typ beim Zähneputzen, dabei auch er seinen walk man umgeschnallt mit freien Oberkörper. Wir nickten uns wortlos zu. Vielleicht hörten wir dasselbe Lied, den Bolero von Ravel.

Zurück nach Berlin. Altes Krankenhaus, alte Patienten. Ich fühl mich zu Haus. Auf dem Heimweg noch kurz an meinem Cafe vorbei. Drinnen sitzen wie immer die selben Leute, reden über Filme, Ausreiseanträge und darüber, das sie es heute wieder nicht geschafft haben zeitig aufzustehen.
Dass ich weg war, hat niemand bemerkt.

Es ist Nacht. Mein Abschiedsbrief liegt ungelesen auf dem Tisch, nichts verändert, alles unberührt. Ich lache in die Stille meines Zimmers hinein.
Christine liegt irgendwo anders im Bett.

1982




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