Die letzten Tage


Gründonnerstag. Kaum etwas deutete auf Leben. Der Tod schrie durch die Mäntel und Lederjacken. Warenhaus. Selbst die unterschiedlichsten Parfüme vermochten nicht den Geruch von Fäulnis gänzlich zu vertreiben, weder die frischen Frisuren noch das Make Up, das Starre der Totenmasken zu retuschieren. Nur die unbeschwerte Einfachheit der Kinder linderte etwas die aussichtslose Ignoranz ihrer Bewacher. Die Lust am Entdecken wurde rechtzeitig mit der sprechenden Puppe oder dem ferngesteuerten T54 gelähmt. Ausschau haltend nach der Sättigung leerer Bedürfnisse, hastete de Mehrheit nervös, gereizt und rücksichtslos aneinander vorbei
Die Lautsprecher verkündeten wohldosierte verführerische Angebote der einzelnen Verkaufsabteilungen. „Osterzeit – erfreuen sie ihre Partnerin mit Erzeugnissen aus dem Hause Florena“…. Sommerzeit – luftige Blusen und Kleider in der zweiten Etage“.
Ich war mittendrin, auf der Suche nach einem Geschenk für Kerstin. Mein Kopf dröhnte, kreischte, schrie, schüttelte Arme und Beine. In den Regalen aufgehäufter, zur Schau gestellter Wohlstand – für mich war nichts dabei. Am Ausgang verkaufte ein Mann 4,50 Mark Tulpen ohne preisfördernde Orchideen. ich kaufte einen Strauß und fuhr mit der nächsten S-Bahn nach Hause.
Hagelkörner schlugen auf das Fensterbrett. Ich schaltete sämtliche Lampen ein, drehte im Bad den Wasserhahn auf und kühlte das Gesicht.
Kerstin wollte ihre Wohnung in Ordnung bringen und erst am Abend zu mir kommen. Rotwein lag im Kühlschrank und die Tulpen standen im Wasser. Früher Abend. Die Zigaretten waren aufgeraucht. Ich lief zu dem kleinen Café , kaufte eine Packung „Juwel“, kleine rote Augen verfolgten meinen Weg zur Tür. Draußen riss ich das Silberpapier auf und zündete mir eine Zigarette an.
Sporadisch vorbeifahrende Autos, sonst Dunkelheit.
Am Haus einer alten Schulkameradin machte ich Halt. Kerzenlicht, sie war zu Haus. Wir redeten über damals, ihre Diplomarbeit, Musik, Karl Marx, Erich Honecker, über Leonhard, ihren Sohn.
Wieder vor meiner Wohnungstür, fand ich einen Zettel! „Es ist nicht das erste Mal in der letzten Zeit, kein Zettel wo du bist, wann du kommst. Ich bin in meiner Wohnung. Du brauchst nicht mehr zu kommen. Ich bin morgen Mittag bei Dir.“ Es war halb Zwölf abends. Ich hatte mich um anderthalb Stunden verspätet. Im Bett rauchte ich eine Zigarette, schlief mit einem bleiernen Kopf ein.
Karfreitag. Jesus sprach: „Vergib ihnen: denn sie wissen nicht was sie tun! Und sie teilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand und sah zu.“ (Lukas 23)
In der Nacht hatte es geregnet. Das Frühstück bestand aus Kaffee und belegten Broten. Danach räumte ich die Küche auf und wusch Wäsche. Kerstin kam. Ich fragte wie es ihr geht. Sie antwortete „gut“. Ich ging in das Bad und spülte die Wäsche. Als ich zurückkam, lagen Naschereien im Ostergras unter den Tulpen, ein Blatt Papier und der Ring lagen daneben. Ich setzte mich auf das Sofa, besah den Tisch, sah aus dem Fenster, nahm eine Zigarette, zündete sie an und nahm ihre Zeilen. „Ich glaube wir haben uns beide geirrt. Wir kennen uns nicht, wir sind uns fremd. Ich dachte, Du hättest einige Worte zum gestrigen Abend zu sagen, aber nichts. Du gehst darüber hinweg…“

Ich ging wieder in das Bad, füllte die Trommel der Waschmaschine mit Bettwäsche, schaltete auf „waschen“ und wartete auf Montag.

1980

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