Bernd


Bernd ist tot. Als er starb, war er gerade dabei, das Federbett seiner alten Mutter aufzuschütteln. Als er die schwere Decke hochwarf, rutschte er zunächst auf die Knie, plumpste dann einfach so nach vorn in die Federn und es war vorbei mit ihm. Seine struppigen Haare waren völlig von dem weißen Inlett umschlossen. Sein Kopf wirkte wie ein Osterei im Stroh. Es sah lustig aus und wäre er nicht tot, hätte man beinahe an einen Spaß denken können. Doch Bernd war völlig humorlos gewesen, einfach weil er Scherze nicht verstand. So war auch dieser Tod von ihm tot ernst gemeint.
Das Bett stank nach allerlei Salben, da seine Mutter ständig mit Knochenbrüchen zu tun hatte und die Hauskrankenpflege zu den täglichen Besuchern des kleinen Häuschens gehörte.
Es war 7 Uhr am Morgen. Ob es vielleicht der Gestank der Salben war, wer weiß. Bernd starb unspektakulär. Herzinfarkt stand auf dem Totenschein. Die Mutter ertrug es, nahm es hin, so als ob ein wertvolles Nutztier verendet sei. Sehr bedauerlich eben, doch zugleich normal.
Das Landleben hat seine alten Gesetze von Leben und Tod. Sinnliche Trauer gehört in die Stadt. Das Leben ist nur im Augenblick.
Bernd war mein neuer Nachbar, und Nachbarn kann man sich beinah genauso wenig aussuchen wie Verwandte.
Ich war auf ein Dorf geflohen, das lag zwischen der Öde und dem Nichts. Die Stadt war weit und ich fühlte mich zwischen meinem Garten und der Stille wohl. Zucchini und Kürbis und kaum Regen und wenn er fiel, dann hatte ich kein Fernsehbild, denn Regen auf meiner Satellitenschüssel bedeutete Schnee auf dem Bildschirm. Die Donner klangen theaterartig, bedrohlich und hohl.
Bernd, mein Nachbar, kannte jeden. Als er noch gesund war, arbeitete er als Tischler. Nun bezog er Invalidenrente und wusste, wie der oder der für mich nützlich sein könnte. Fast jedes Auto, das an seinem Haus vorbei fuhr, hupte ein hallo. Kein Gespräch mit ihm verging ohne sein krähendes: „Frag mich! Ich kenne sie A-LLE!“. Er war dann sehr stolz auf sich.
Meist hatte er eine Bierflasche in der Hand und ein Zigarette im Mund. Und tatsächlich, er kannte nicht nur jeden, sondern wusste auch, wie man mit dem oder dem sein Haus am billigsten auf Vordermann bringen konnte. Er kannte jede Geschichte zu jedem Menschen in meinem Dorf. Wer an welcher Stelle empfindlich ist, wie man auf dem Dorffest seinen Einstand bewerkstelligen sollte. Bernd war ein Kumpel und half mir wo es nur ging. „Wie überlebe ich auf dem Dorf “, lernte ich von ihm. Dafür musste ich die abwertenden Sprüche über die Berliner ertragen.
Da waren sich alle im Dorf einig: die Berliner fuhren verkehrt, machten alles falsch und waren gerade gut genug, irgendwelche Überpreise zu bezahlen – „Die sehen doch nicht durch“. Ich war auch einer von denen und doch ganz anders. Für einen, der zu ihnen in diese Gegend zog, bestand noch Hoffnung. Für sie war ich ein Städter mit einem Defekt, deshalb hatte ich eine Chance bei ihnen und wurde sogar mit Respekt und Nachsicht behandelt.
Ich wurde akzeptiert. Und für Bernd? War ich ein reicher und hoffnungsvoller Eleve aus der Stadt, denn Berliner waren alle reich und hatten alle kein handwerkliches Geschick und konnten hinsichtlich dessen belehrt werden. Für Bernd war ich durch meine Krankheit ein Komplize.
Rosa und ich ließen das Dach neu decken und herkömmliche Fensterläden anbauen. Doch was für meine Nachbarn das eigentlich Außergewöhnliche war: Wir legten gegenüber vom Haus auf der anderen Straßenseite einen kleinen Garten an, mit Hecke zur Fahrbahn. Das gehörte zur Tradition in dieser Gegend. Doch durch immer praller gefüllte Supermärkte schwand diese Form der Selbstversorgung.
Mit dem letzten Geld unseres Kredites ließen wir die Fassade zum Teil neu verputzen. Unsere Nachbarn beobachteten unser Tun mit sehr viel Neugier und ohne Arglist. Nein, sie freuten sich mit uns. Ihr Interesse war aufrichtig. Verschämt entschuldigten sie sich für den Zustand ihrer Häuser, oder dafür, dass sie eben nichts weiter an ihren Häusern taten. Immer war es das fehlende Geld. „Wir hatten doch nichts!“, war die Standardausrede. Das „wir hatten doch nichts“ bezog sich auf die DDR-Zeit und die war eigentlich schon lange vorbei.
Bernd musste ich jeden Bauschritt vorführen. Er nickte dann anerkennend, fragte stets wer was gemacht hat und wie viel mich die Sache gekostet hatte.

Es war eine laue Nacht eines trockenen und heißen Spätsommertages. Selbst das bloße Laken lag unangenehm schwer auf der Haut. Grillen zirpten vor dem Fenster, Frösche quakten. Kein Schlaf weit und breit, nur ein merkwürdiges Geräusch, das sich in die Müdigkeit mischte. Es war ein sachtes Hämmern, so als ob etwas schleift und hohl gegen etwas Metallisches klatscht. Das wiederholte sich in regelmäßigen Abständen bis meine letzte Trägheit der Nacht verflogen war.
Ich stieg aus dem Bett, zog mich an und lief in den Garten.
Dort strahlten Lampen die Scheunenwand meines Nachbarn an. Auf einem Gerüst klatschte Bernds Arbeitskollege von früher Putz an die Wände und Bernd füllte den Zement aus dem Mischer in große Gummieimer ab und neunen Mörtel und Kalk in die Maschine nach. Er ließ es sich nicht nehmen, fachmännische Kommentare abzugeben, die Maurerarbeit zu begutachten und körperliche Handlangerarbeiten zu verrichten, die für seine Krankheit bestimmt nicht gut waren.
Es war gegen zwei Uhr in der Nacht. Die Scheinwerferlampen tauchten die Nacht in grelles Licht. Bernd pfiff mir irgendwelche Laute entgegen. Ich erinnerte ihn an seine Krankheit und warnte ihn in der kumpelhaft lauten Weise, die ich mir in der Zwischenzeit angewöhnt hatte. Und Bernd, zu dem ich mittlerweile ein sehr gutes nachbarschaftliches Verhältnis entwickelt hatte – meinte ich zumindest – sah mich fremd und sehr kalt an. Ich solle ihn nicht vor einem anderen, zumal noch einem Arbeitskollegen, bloßstellen. Dabei machte er eine drohende Handbewegung zu mir hin.
In dieser Nacht war Bernd noch einmal ein Mann. Und ich nur der vorlaute Berliner.
Ich drehte mich um und trottete wieder in mein Bett.
Am nächsten Morgen war Bernd tot.




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