Live


Live (Ein Volksstück nach Tatsachen)

Marzahn hatte sich schön gemacht, bevölkerte frisch gelockt in Abendkleidern die Friedrichstraße. Die Absatzschuhe ließen die graziösen Bewegungen der Damen gelegentlich ins Tollpatschige abgleiten. Doch das wurde mit stolzer Mimik selbstsicher überspielt. Die Krawatten der männlichen Begleiter wetteiferten untereinander um den skurrilen Widerspruch zum Abendanzug.
Man strömte polychron zu den Theaterhäusern und den reservierten Tischen im „Ganymed“ oder „Wein-ABC“. Ein unterhalsamer Samstag mit Niveau stand auf dem Plan.
Von weitem entdeckte ich auf der Weidendamm-Brücke eine riesige Menschenmenge. Sicher eine Freilichtvorstellung. Mein entwickelter Herdendrang trieb mich geradewegs in das Gedränge. Immer heißt es, wenn man den Anfang versäumt hat, still sein und lauschen, bis genaue Erkenntnisse vorliegen, worum es sich handelt und wie weit die Handlung fortgeschritten ist. Wahrscheinlich war ich in ein Possenspiel geraten, denn das Publikum war sichtlich erheitert, sogar aufmunternde Zurufe waren vernehmbar. Ich freute mich mit den Anderen, einfach weil ich dabei war. Nur die eigentlichen Akteure konnte ich nicht gleich ausmachen. Ich folgte den Blicken meiner Nachbarn, und da war er, der Narr, splitternackt, hoch über dem Publikum, auf einem Laternenmast. Stand aufrecht, die Zehen krallten sich um den gusseisernen Drachenkopf des Lampenbogens, die Arme umschlangen die darüber hinaus ragende Spitze. Er schrie: „Lasst mich in Ruh‘, wenn ihr hochkommt, dann springe ich!“ (Lang anhaltendes Lachen)
Mit dem „ihr“ waren die Feuerwehrleute gemeint, die sich anschickten, hinaufzuklettern. Zur Szenerie gehörten weiterhin zwei Feuerwehrwagen (ein dritter sollte später noch dazu kommen), die Leitern wurden soeben in die richtige Position gedreht, vier Polizeiwolgabesatzungen mussten für heute die Hauptrollen ihren Lösch- und Paramilitärkollegen überlassen; doch die gelassene Art, wie sie die Masse zurück hielten, allzu enthusiastisch nahe zu kommen, verreit, dass sie den Epilog bestreiten werden. Das aufgeblähte Luftkissen lag pflichtgemäß für den eventuellen Sprung bereit. Inzwischen war ein Feuerwehrmann den Mast hochgeklettert und stand auf dem zweiten Lampenbogen und absolvierte in wenigen Minuten seinen Textbeitrag. Trotzt der plötzlichen Stille verstand ich kein Wort. Nur seine Lässigkeit beweise, dass er dieser Passage der Farce wenig Bedeutung beimaß. Der Narr war abgelenkt und der starken Aufmerksamkeit nicht mehr gewachsen, verwirrt wehrte er sich, „…bleib da drüben, komm nicht näher!“, und an uns alle: „Ich will nicht runter, ich spiel nicht mehr mit! Gafft nicht so, ihr Schweine!“
Diese Beschimpfung ließen wir uns nicht gefallen und konterten: „…spring doch, spring doch… alles leere Versprechungen…“ Denn das wollüstig gestöhnte „Mach schon!“ aus den vorderen Reihen unterstrich die ekstatische Wirkung der Handlung.
Ein gemütlicher Herr, um die fünfzig Jahre, untersetzt, stand direkt neben mir und kommentierte seiner Frau den Verlauf des Stückes. Ihm lagen wohl mehr die Klassiker, als dieser Ohnesorg-Schwank, denn als einer der zahlenden Zuschauer die Nikon anlegte, rief er empört nach einem Polizisten, der tatsächlich den Naiven am Erinnerungsfoto hinderte. Ich fragte, warum er ihm denn nicht den Spaß lässt. Daraufhin wurde er bissig: „Der soll seine Sensationslust woanders befriedigen, nicht hier!“ Wahrscheinlich waren es mehr die phantastischen Leistungen des Ensembles, die ihn ansprachen. Seine Frau hatte vergessen, den Staublappen aus der Hand zu legen, knüllte ihn in der Faust und biss ängstlich darauf herum. Mit verhaltenem Stolz, als ob ehemalige Schüler von ihm ihr Debüt geben, beruhigte er die angstverwirrte. „Siehst du, der mit oben steht, lenkt den Verrückten ab – was hab ich gesagt – jetzt klettert noch einer auf der Feuerleiter hinauf – sicher wollen sie ihn gemeinsam festhalten und überzeugen – jetzt fassen sie ihn schon am Arm – die Handschelle ist am Handgelenk – was will der dritte mit dem Gummiknüppel, naja, der wehrt sich ja auch wie verrückt. Er steckt den Schlagstock wieder weg, holt die Stricke hervor – die Füße sind gefesselt – keine Angst, mein Liebes, dem passiert nichts – nun liegt er mit dem Kopf nach unten auf der Leiter, ein kleiner Tritt in den Hintern, einer vor den Kopf – man muss leider den Menschen zu seinem Glück zwingen – so, nun sind alle wieder unten.“ Der Feuerwehrmann rechts, verdreht dem Scharlatan den Arm, dass er sich nach hinten streckt, der andere zerrt ihn an den Haaren nach vorn. „Eine kleine Verbeugung muss sein.“ Die Statisten am Polizeiauto nehmen ihn lächelnd in Empfang. Sie wussten, dass ihnen der letzte Akt gehören würde. Der Wolga bewegt sich in Richtung nächstes Polizeirevier.
Auch ich konnte mich einer Beifallsäußerung nicht entziehen. Spontan kam ein „herrlich, herrlich“ über meine Lippen. Der Mann neben mir sah mich böse und verächtlich an, bemerkte erschrocken die Schlinge um meinen Hals, und dass er nackt war.
1982




Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert