Tod eines Malers. Roman

Tod-eines-Malers

Westkreuz-Verlag Berlin/Bonn, 2009
156 Seiten, Broschur
ISBN 978-3-939721-11-6
14.90 €

 

Irgendwann habe ich nicht mehr nach Ursache und Wirkung gefragt, sondern einfach

festgestellt: Weder gehe ich verloren noch kann ich entkommen.
Yana Milev

I. Kapitel

Die Auftraggeberin
Am Abend
Herbst
Dittrich Adamsky

Die Auftraggeberin

Schon eine Stunde vor dem Termin hatte sich Dittrich Adamsky an der Ruinenkirche in Wriezen eingefunden. Er wartete auf seine neue Auftraggeberin und die sollte um keinen Preis denken, er sei unkorrekt, womöglich sogar der falsche Mann für den Auftrag. Er war es gewohnt, Zeitpuffer in sein Handeln einzubauen. Er versuchte jeden nur denkbaren Störfall zu berechnen und diesen bereits im Vorfeld auszuräumen.
Adamsky bemühte sich, gründlich und gewissenhaft zu sein. Denn allzu oft stand er sich selbst im Weg.

Heute lief alles nach Plan. Er hatte eine Stunde Zeit gewonnen, um sich auf die bevorstehende Begegnung einzustellen und sich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen.
Hier in dieser Kleinstadt sollte also ein Mord geschehen sein und er war zu dessen Aufklärung bestellt – Adamsky konnte sein Glück kaum fassen! In seiner gesamten Detektivlaufbahn, die aus der Not geboren kurz nach der Wende 1989 begann, kam noch nie ein möglicher Mordfall vor. Seine Kollegen faselten ständig von solchen kniffligen Fällen, die sie gelöst hätten und wie clever sie dabei vorgegangen wären.
Aber Adamsky wusste durch den eigenen Berufsalltag nur zu gut, dass diese Erzählungen reines Detektivgeschwätz waren, weil die Berufskollegen sich das eigene lizenzierte Spannerdasein schön reden mussten. Dittrich schwieg in solchen Momenten. Er dachte dann an die alimentenflüchtigen Väter, die Scheidungen, Namensnachforschungen, den Personen- und Veranstaltungsschutz, denn das war die Realität! Und die war äußerst freudlos und bestenfalls geschmacksneutral.
Dittrich Adamsky empfand seinen Detektivalltag als einen Marsch durch endlose Wüsten.
Wenn er nach den Diensten nach Hause kam, hatte er nicht selten das Gefühl, völlig sinnlos zu sein.
So ganz aber hatte er nie die Hoffnung aufgeben wollen, denn auch in der Wüste fällt ab und zu Regen. Und jetzt endlich sollte das jahrelange Warten auf einen „richtigen“ Fall belohnt werden! Das war todsicher!
Nun durfte er sich nicht nur laut seiner Zulassung als Detektiv bezeichnen, nein, seit dem Anruf dieser Frau fühlte er sich auch wie einer. Er war dabei, wirklich seine Unschuld zu verlieren!
Adamsky, der nicht unbedingt ein Gewinnertyp war, schien endlich einmal Glück zu haben. Ohne Skrupel freute er sich über den Toten. Und dabei sprach nicht unbedingt etwas für einen Mord und wenn er sich hier umsah, kamen in ihm Zweifel auf. Allein die Auftraggeberin am Telefon schien von einem Mord überzeugt. Der Tote soll ein Landstreicher gewesen sein, der für die Allgemeinheit nur ein lästiges Ärgernis darstellte. Die Behörden hatten sich dann auch beeilt, den Toten schnell zu entsorgen. Jedenfalls war er im Krematorium längst durch den Rost gefallen.

„Auch wenn der Tote nur ein Landstreicher war, verdient er wie jeder andere Respekt!“, meinte die Frau am Telefon resolut. Sie klang sehr verzweifelt, denn die Gleichgültigkeit ihrer Umgebung hatte sie fassungslos gemacht.
Es gab für Dittrich Adamsky wirklich keinen Grund, an ein Verbrechen zu glauben. Doch seine Auftraggeberin wollte die Todesumstände zumindest noch einmal genauer untersuchen lassen.
Dittrich fühlte sich sehr verloren auf dem Kirchplatz in Wriezen. Ihm war es unangenehm, hier als ein Fremdkörper einfach nur herumzustehen. Deshalb betrachtete er mit übertriebenem Interesse wie ein Tourist seine Umgebung.
Der Sakralbau erschien Dittrich Adamsky überdimensioniert, zumindest im Bezug auf die heutige Stadt, die irgendwie zeitverzögert dahinlebte.
Auf der einen Seite des Platzes führte ein abschüssiger Parkplatz zur Bahnhofstraße hinhab, am südlichen Ende fasste ein austauschbarer Neubaukomplex den einstigen Mittelpunkt der Stadt ein. Zwischen der Ruine und der nördlich gelegenen zweigeschossigen Einkaufsstraße, zu der er jetzt schlenderte, drängte sich ein Supermarkt. Bei dem Namen der Supermarktkette war Dittrich klar, dass hier die Honoratioren der Stadt oder die, die früher gern einmal im Intershop eingekauft hatten, verkehren mussten. Auf dem Provinzboulevard zwängten sich Stände mit Produkten zweifelhafter Qualität, dargeboten von ebenso zweifelhaften Gestalten. Imbissbuden, ein Hähnchengrill und der Werbestand einer in der Straße ansässigen Versicherung rundeten das traurige Bild ab.
Die Menschen strahlten auf Dittrich fleischgewordene Schwermut aus. Er fühlte sich von den vorbeikommenden Passanten nur als Störfaktor registriert, als einer, der keiner von hier ist.
Obwohl in der Fußgängerzone gekauft, getrunken und gegessen wurde, irgendwoher von einem Tonband deutscher Schlager dudelte und man in Familiengrüppchen plauderte, hing eine Lähmung über allem. Die Stadt war wie ein Computer, der beim Programmwechsel abgestürzt ist. Der Curser blinkte noch aber mehr passierte nicht.
Ihm war nun klar, weshalb sich die Auftraggeberin nicht in einem Café verabreden wollte, denn Adamsky konnte nirgends ein geeignetes Lokal ausmachen. Ihm schien, als ob Konzept- und Phantasielosigkeit die Stadt seit dem 2. Weltkrieg regierten, denn sämtliche DDR- und gesamtdeutsche Spuren in der Stadt verwiesen auf eine gewisse Beschränktheit.

„Also in diesem Kleinstadtmief soll ein Mensch umgebracht worden sein?“, fragte sich Adamsky skeptisch. Seine Zweifel wuchsen. Jeder der Passanten hätte demnach der Mörder sein können. Doch wer sollte am Tod eines armen Penners Interesse haben, der neben einer Parkbank im Stadtpark aufgefunden worden war? „Zu viel Fusel geschluckt, gestolpert, in der kalten Herbstnacht eingeschlafen und einfach nicht wieder aufgewacht“, fasste Dittrich Adamsky sachlich zusammen. Solch ein Mensch war für die Allgemeinheit wirklich nur eine unwichtige Randnotiz.
Nur eben nicht für die Frau, die ihn jetzt ansprach. „Heißen Sie vielleicht Dittrich Adamsky?“, unterbrach sie seine Gedanken. „Ich bin die Rosa Flüger vom Telefon.“
Dittrich Adamsky sah auf und bejahte. Er war erleichtert.
„Wir waren miteinander verabredet!“, tönte jetzt ebenfalls erleichtert ihre Stimme.
Mit Humor fügte sie schon beinahe persönlich hinzu: „Mit diesem feinen Hut konnten sie keiner von hier sein und Wriezen erwartet heute keinen Fremden mehr.“ Sie lachte über das ganze Gesicht. Sie erwähnte nochmals seinen Hut, ahnte dabei nicht, dass sie zielsicher Dittrichs Schwachstelle getroffen hatte. Er nahm sofort die passende Haltung zu seiner Kopfbedeckung ein. Der Hut war ein echter Stetson für die Stadt und war die Inkarnation seiner Eitelkeit. Obwohl er ständig pleite war, hatte er sich diesen Hut nach seiner Scheidung als Zeichen seiner neuen Unabhängigkeit geleistet.

Dittrich glaubte, ihre zarten Krähenfüße tanzen zu sehen. Sie war blond, recht groß, wirkte dennoch sehr zierlich, beinahe zerbrechlich, war leger gekleidet und hatte einen Blick voller Schwermut und Intelligenz. Doch vor allem schaute Dittrich geradewegs auf ihren unbedeckten Hals. Einer Frau sah er generell nicht zuerst auf die Beine oder den Busen, wie es Männer angeblich immer tun sollen, sondern er schaute auf ihren Hals. Er bildete sich ein, in den Falten, der Hautstruktur und der Äderung lesen, etwas über sein Gegenüber erfahren zu können, er entschied nicht zuletzt über seine Sympathie. Zwischen seinem Blick, dem Hals einer Frau und seiner Hand entwickelte sich sofort ein erotischer Abgrund hin zur Lust. Wie seine zitternde Hand mit sanftem Druck vom Kehlkopf hinunter bis zum Punkt zwischen den beiden Sehnen vibrierte, dieses willenlose Entgegenstrecken, wie er den Hals umschloss und seine Gefühle zwischen Gewalt und Zärtlichkeit oszillierten, das war für Dittrich eine sinnliche Droge. Und diesen Hals seiner Klientin hätte er sofort gern berührt. Er bildete sich tatsächlich ein, dass ihr Hals mit Sehnsucht zu ihm sprach.
„Sie sind doch der Detektiv aus Berlin“, fragte sie jetzt unsicher, denn sein langes Schweigen irritierte sie. Die Worte, die keineswegs erotisch klangen, holten ihn schnell aus seinen Gedanken zurück. Er nickte nur.
In kurzer Zeit war es Rosa gelungen, ihn restlos zu verwirren.
Sie wirkte total anders als die Frauen, zu denen er bisher Kontakt gehabt hatte. Was aber noch mehr ins Gewicht fiel: Ihre Haarfarbe, die Kleidung, die Bewegung, alles an ihr war total anders als bei seiner Ex-Frau, die ihn nach Jahren immer noch nicht ganz zufrieden ließ.

Dittrich war verstört und benommen, denn diese Frau gefiel ihm auf Anhieb. Nur leider stand auf der ersten Seite seines Handbuchs für Detektive: „du sollst niemals etwas mit einer Klientin anfangen!“ Das galt als äußerst unprofessionell. Zumindest hatte er das immer wieder gehört, denn eine solche Fibel besaß er nicht wirklich.
„Ich hatte ihre Telefonnummer aus den Gelben Seiten, die anderen waren alle fett gedruckt und ihre nicht, deshalb rief ich gerade sie an“, erklärte sie schlaksig. „Ich würde vorschlagen“, fuhr sie fort, „sie lassen ihr Auto hier einfach stehen und wir fahren zunächst zum Fundort der Leiche, damit sie sich vielleicht ein erstes Bild machen können!“ In ihren letzten Worten lag ein euphorisches Fragezeichen.
Dittrich konnte nur mühsam seine Enttäuschung verbergen.
Es sollte tatsächlich nur ein Zufall, eine Laune ihrer Selektion gewesen sein, dass ausgerechnet er jetzt hier stand.
Andererseits, wie sollte sie ihn sonst gefunden haben, entschuldigte er sie. Obwohl, etwas gekränkt war er schon.
Sie fuhren die Straße Richtung Bad Freienwalde entlang, ließen das Wein umrankte Rathaus rechts liegen und bogen an der nächsten Einfahrt erneut rechts ab. Sie fuhren durch ein großes Portal.
Auf der einen Seite stand ein Pförtnerhäuschen, auf der anderen eine protzige Gründerzeitvilla. Das Grundstück war zur Straße hin mit einem martialischen Gitterzaun liniiert.
Sie befanden sich auf dem weitläufigen Gelände einer ehemaligen Brauerei, das jetzt unterschiedliche Lebensbereiche beherbergte.
Denn im ehemaligen Pförtnerhäuschen war jetzt die „Wriezener Grillstation“, in der alten Herrschaftsresidenz die Kreisverwaltung untergebracht. Ein kleiner Park hinter dem Imbiss reichte bis zu einem Aldi-Supermarkt. Parkplätze schlossen sich an, der schüttere Weg führte zu mehreren Fertigteilbaracken. In denen befanden sich ein Handyladen und ein Tierfuttergeschäft. Ebenso entdeckte Dittrich Adamsky einen Beachvolleyballplatz.
In dem ungepflegten Parkgelände gruppierten sich Bänke um einen Brunnen. Sein Zustand war erbärmlich wie der des gesamten Areals. Auf einer Bank saßen mehrere Penner, die Büchsenbier tranken und träge das Terrain beobachteten, das durch die an- und abfahrenden Autos und durch die Passanten genug Abwechslung bot. Die Bänke standen in sicherer Distanz zum Kaufpublikum, so dass weder die Penner noch die Passanten gestört wurden.
Rosa Flüger parkte das Auto. Beide stiegen aus. Rosa blickte über das Autodach zu den Pennern und hatte das Bedürfnis, ein Statement abzugeben:
„Ich hab was gegen die Bezeichnung Penner. Für mich sind das zu allererst Menschen, bei denen irgendwann etwas schief gegangen ist.“ Sie zwinkerte dem Detektiv schelmisch zu. „Wie heißt es so schön in unserer Verfassung: Die Würde des Menschen ist unantastbar!“
Sie nannte die Säufer nicht Penner, sondern einen Teil unserer Gesellschaft, sie nannte sie liebevoll Strandgut, das irgendwann angeschwemmt wurde und liegen geblieben ist.
Skeptisch musterte er sie und schwieg, fand aber ihre Haltung nicht unsympathisch.
Sie machte den Vorschlag, ihn im Oderbruch als einen Freund aus Berlin vorzustellen, damit er so wenig wie möglich Aufmerksamkeit erregt.
Sie standen noch immer am Auto. Inzwischen hatten sie sich beide auf das Dach aufgelehnt. Wäre es nach Dittrich gegangen, hätten sie endlos so stehen können.
„Also dort hinter ihnen, bei den Bänken haben sie den armen Reinhardt gefunden.
„War sein Name Reinhardt?“ fragte Dittrich Adamsky interessiert.
„Ja, er hatte mir seinen Namen bei einem meiner täglichen Spaziergänge mit dem Hund verraten.“ Ihr Blick verfing sich in Erinnerungen, um dann nachdenklich und erklärend fort zufahren. „Ich traf ihn oft unterwegs.“
Adamsky war jetzt restlos verblüfft und schaute Rosa nur noch fragend an.
„Das ist alles eine längere Geschichte. Ich habe auch noch einige Zeichnungen von ihm bei mir zu Hause. Am besten wir fahren zu mir und reden weiter. Ich glaube, heute gibt es hier nichts mehr zu sehen!“
Der Detektiv war derselben Meinung wie seine Klientin und machte Anstalten wieder ins Auto einzusteigen. Rosa hielt nochmals inne.
„Wie wäre es, wenn sie mich duzten?“, fragte sie plötzlich ohne Umschweife, „ich hasse dieses unsinnige sie.“
Dittrich stand der Mund offen und es vergingen vielleicht ein-zwei Sekunden bevor er ein abruptes „Ja, natürlich“, hervorbrachte.
„Ich bin ja die Jüngere von uns beiden, ansonsten würde ich das gemeinsame du anbieten.“, druckste sie ein wenig verlegen herum.
Dittrich war in diesem Moment durch die Etikette überfordert. In einer anderen Situation hätte er ein „aber natürlich, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen“ hervorgebracht und hätte sich dabei leicht gegen die Stirn geschlagen. Doch hier an diesem Ort erschien ihm auch das äußerst skurril.
Deshalb kam sein „Mich nennt man einfach nur Adamsky“ beinahe so bei Rosa an, als habe er etwas dagegen.
„Kommst du noch mit zu Aldi, eine Flasche Wein für unseren Abend kaufen“, lenkte Rosa mit einer Frische ab, die ansonsten nur noch in der Werbung vorkam. Sie war unwiderstehlich.

Am Abend
Mit zwei Flaschen Rotwein im Gepäck fuhren Rosa und Dittrich über den Kreisverkehr in Richtung Letschin und bogen dann in die Straße nach Altreetz ab. Rechts und links der Straße begannen sich abgeerntete Felder mit Inseln aus Röhricht und Schilf auszubreiten, die jedes Dorf einzuschließen schienen. Nur ab und zu streckte sich eine Pyramideneiche zigarrenartig zum Himmel. Adamsky schien es endlos so weiterzugehen. Als einzige Erhöhung in der kilometerweiten Ebene ragten mit Gestrüpp und Bäumen bestandene Deiche hervor, die sich nur wenige Meter hoch, wie geschwollene Adern durch die Landschaft schlängelten und dem Blick in der Weite Struktur gaben.
Sie fuhren durch Dörfer mit und ohne Kirchtürme. Nach dem zweiten oder dritten Straßendorf bremste Rosa vor einem alten und teilweise renovierten kleinen Haus. Das Hoftor stand offen und Rosa fuhr auf zwei gepflasterten Fahrspuren geradewegs in die ebenfalls geöffnete Garage am hinteren Ende des Hofes hinein.
Hier also war sie zu Hause.
Für Adamsky erschloss sich dieses Domizil nur als kleine Hütte, zwar mit Scheune, Schuppen und einem Waschhaus, dennoch konnte es zu keiner Zeit ein respektables Gehöft gewesen sein.
Im Gegenteil, das Anwesen musste früher in einem noch erbärmlicheren Zustand gewesen sein als jetzt, denn all zu sehr hoben sich die jüngeren Veränderungen vom alten Zustand ab. Die Hoffläche war teilweise von der Betonversiegelung befreit, eine Trennmauer zum Nachbargrundstück orange gestrichen, der Schuppen strahlte in kräftigem blau, die Dächer waren neu gedeckt. An den übrigen Nebengebäuden konnte er sich noch eine Vorstellung vom einstigen Zustand machen. Von den Scheunenwänden blätterte die Farbe ab, und Wellblech war auf die Holzflächen genagelt. Der Schuppen war mit Wellasbest eingedeckt. Adamsky erschien der Hof wie eine Baustelle, auf der nur ein Arbeiter werkelte, der keine richtige Lust hat. Es regte sich das männliche Bestreben in ihm, gegenüber einer Frau die eigenen Vorstellungen zu dozieren und Tipps zu geben, doch sie skizzierte ruhig und gelassen die vorgesehenen Veränderungen in einer derartigen Bestimmtheit, das Adamsky nur blöde schweigen konnte.
Als Rosa dann zu guter letzt noch eine knappe Situationsbeschreibung über das Vorgefundene abgab, dass es dem Vorbesitzer offensichtlich mehr ums Praktische als um Schönheit gegangen sei, hielt es Adamsky für besser, sein Heimwerkerwissen lieber für sich zu behalten.
Rosa war offensichtlich stolz auf das Geschaffene. Was ihm aber noch mehr imponierte war die Tatsache, das sie in anderen Abläufen als er dachte, der mehr von der Hand in den Mund, von jetzt auf heute lebte. Sein handwerkliches Talent war bescheiden. Noch nie in seinem Leben hatte er etwas von einer Rüttelplatte gehört. Er besaß noch nicht einmal eine Wasserwaage, geschweige denn so ein Ungetüm von einem Schwingschleifer. Und sie sprach von Veränderungen in den nächsten zehn Jahren.
Plötzlich brach Rosa ihre Rede ab und schwieg ebenfalls. Sie versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Ohne Worte wirkte sie unsicher und beinahe hilflos, und Adamskys Blick, der die Baustelle taxierte und dem immer noch die Worte fehlten, wirkte auf Rosa wie ein Feldherr vor der Schlacht. Doch tatsächlich kam er sich nur ganz klein vor und bemühte sich, seine Bewunderung für diese Frau zu verbergen. Als Rosa nichts Anstößiges in seinem Ausdruck entdeckte, sprach sie leise und zurückhaltend über ihr Bauvorhaben weiter.
„Ich versuche hier den Spagat zwischen der Historie des Hauses und den Veränderungen, die im Verlauf der Zeit passiert sind und seinem Heute hinzubekommen. Was ich vorfand, war wirklich nicht schön“, entschuldigte sie sich. „Wenn ich die Dorfbewohner auf die betonierte Hässlichkeit anspreche, jammern sie nur hartnäckig „was sollten wir denn machen, es gab doch nichts im Osten!“ Dabei äffte sie das Jammern etwas zornig, mit einem leicht verächtlichen Unterton nach.
„Ich habe von einigen Bekannten da ganz anderes gehört“, fuhr sie fort. „Sie hatten auch zu DDR-Zeiten schon alte Häuser und haben vieles an ihnen gemacht. Ein bisschen Wille, etwas Geschmack und Inspiration – da schien einiges möglich zu sein. Jedenfalls sah kein Haus meiner Bekannten so aus! … Überputztes Fachwerk hat jedenfalls nichts mit Ideologie zu tun.“
Sie schwieg, schaute in die Weite, resümierte beim Hineingehen schon optimistischer, „Irgendwann wird mein Haus auch schön sein! Da bin ich mir ganz sicher!“ Sie sagte das mit so fester Stimme, dass jeder Zweifel ausgeschlossen war.
Auch innen glich das Häuschen einer bewohnten Baustelle.
Er registrierte abgeschliffene Fußböden und den Lehmputz in der Küche, die Liebe, mit der sie der Verschönerung auch im Haus die Richtung gab.
Dittrich nahm die Probleme, die es offensichtlich beim Ausbau geben musste, gar nicht so recht wahr. Er war nur noch verwirrt, egal ob das Haus nun fertig renoviert war oder nicht.
Adamsky hatte eine gänzlich andere Welt betreten. Seine in Marzahn bestand aus Raufaser, einer hässlichen Schrankwand und einer Sitzgarnitur, die er sich gleich nach der Wende noch gemeinsam mit seiner Frau bei „Möbel Hübner“ in Westberlin gekauft hatte. Und hier hing sogar ein richtiges Gemälde an der Wand, das er in seiner Abstraktheit nicht verstand. Ein bequemes Rattansofa und Bücher über Bücher in Regalen. Die Wohnküche nahm ihm gänzlich den Atem. Ein großer Holztisch stand in der Mitte des Raumes, die Wände waren gelb verputzt und sie besaß keine Hängeschränke. Bisher hatte er so etwas nur in Prospekten als „Landhausstil“ gesehen. Ihm war nicht bewusst, dass es das tatsächlich gab.
Er hatte seinen Hut abgenommen und hielt sich ziemlich verloren an der Krempe fest. Er fühlte sich hilflos und fremd, doch er spürte, dass es ihm hier gefiel, so sehr, das er am liebsten seine sieben Sachen in Berlin gepackt hätte und zu der Klientin gezogen wäre, denn die wirkte in ihren eigenen Wänden noch souveräner und anziehender, irgendwie intellektuell. Sie erschien ihm wie eine von denen, vor denen auf seiner ehemaligen Dienststelle eindringlich gewarnt worden war.
Diese Dienststelle gab es nun schon lange nicht mehr, und sein Welt- und Menschenbild wurde mit den Jahren gehörig gerade gerückt, dennoch konnte er sich dem alten Gefühl, das aus Distanz und Neid solchen Menschen gegenüber bestand, nicht ganz entziehen.
„Hier lebe ich“, bat sie etwas unsicher um Verständnis, denn Dittrich schwieg und staunte immer noch. Seinen verdutzten Gesichtsausdruck deutete sie als Enttäuschung ob der Baustelle. Seinen angedeuteten Versuch, die Schuhe auszuziehen, unterband sie vehement und bot ihm einen Platz am Küchentisch an, sie brühte Kaffee und stellte unkompliziert große Tassen auf den Tisch. Ein Bild, besser ein Karton mit Schmutz bemalt hing an der Wand. Die Mischung aus Erde, Wasser- und Grasflecken ergab ein bizarres Gebilde, in dem Dittrich etwas zu erkennen versuchte. Vielleicht eine Weide im Sturm oder ein verzerrtes Gesicht erlaubte ihm seine Fantasie zu entschlüsseln. Die Auftraggeberin beobachtete Dittrichs Rätselraten.
„Das hatte mir eines Tages der Mann geschenkt, um den es geht. Wie du schon weißt begegnete ich ihm öfter, wenn ich mit meinem Hund über die Felder spazieren ging. Er hatte immer eine prall gefüllte Plastiktüte in der Hand. Er trug, ob nun Sommer oder Winter war, einen schweren und unförmigen Mantel. Als ich ihm das erste Mal begegnete, hatte ich beinah Angst vor ihm. Doch er grüßte freundlich und interessierte sich gleich für meinen Hund. Seine Tierliebe verblüffte mich, und der Hund war sofort zutraulich. Das überzeugte mich und ich nahm später auf den Spaziergängen ein geschmiertes Brötchen oder alte Sachen mit. Wenn ich ihn sah, gab ich es ihm und er bedankte sich jedes Mal.“ Sie lachte verschmitzt und mit einem Augenzwinkern: „Ich glaube, er war in mich verliebt.“ Und mit einer gewissen Achtung: “Er war irgendwie faszinierend. Über den Hund kamen wir ins Gespräch. Er erzählte mir von früher, dass er zu DDR-Zeiten ein recht bekannter Maler gewesen war, dessen Bilder in vielen Ausstellungen gehangen hatten. Nach der Wende musste er es irgendwie versäumt haben, sein Talent zu vermarkten. Wahrscheinlich kam er mit den hohen Preisen für seine Utensilien nicht zurecht, auch sein Atelier wurde plötzlich sehr teuer, so dass er es nicht mehr bezahlen konnte. Bestimmt machte ihn diese Jagd nach der täglichen Existenzsicherung nervös, so sehr, dass er nicht mehr malen konnte. Weshalb er dann hierher ins Oderbruch kam und auf der Straße lebte, habe ich aber nie so recht verstanden.
Er war schon sehr exzentrisch und gleichzeitig verschlossen. Er mied die alten Kontakte, die es entweder im neuen System geschafft hatten oder genauso lavierten wie er. Die einen wollten ihn nicht mehr kennen und die anderen waren noch ratloser als er. So ungefähr hat er es mit erzählt. Allmählich muss sich dann der Suff zu ihm gesellt haben, denke ich. Er nahm sich Kartons oder andere Reste, die ihm der Supermarkt großzügig zur Verfügung stellte und bemalte diese Unterlagen mit seinen Händen. Farben waren Marmeladen- und Jogurtreste, Asche und alles, was er im Abfall fand, und was irgendwie verwendbar aussah. Er nannte seine Werke sehr ernsthaft Schmutzbilder und sprach über sie, als ob er damit eine Kunstrichtung verfolgte. Doch es waren Bilder aus dem, was wir als Abfall bezeichnen, das einzige, was er sich noch leisten konnte. Der Zwang, bildlich zu schaffen, muss aber bis zuletzt sehr stark gewesen sein. Als ich ihn das letzte Mal lebend sah – wenige Tage vor seinem Tod – kauerte er wie so oft zuvor im Matsch und malte. Er hatte die Pappe auf dem Feldweg ausgebreitet und fasste in den Modder und gestaltete das Blatt ganz zauberhaft, auch zeichnete er Figuren, wahre Kunstwerke, für den Augenblick einfach so in den aufgeweichten Grund. Ich gebe zu, dieser Mann beeindruckte mich in seiner Tragik. Ich half ihm so gut es ging und so lernte ich ihn und nach und nach auch die anderen seiner neuen Welt kennen. Dann sah ich ihn hier im Park, wenn ich einkaufen ging. Er beobachtete mich und es war ihm peinlich, wenn ich ihn mit einer Flasche überraschte. Er stellte sie dann verschämt ab und wühlte geschäftig in seiner Tüte. Später im Feld erzählte er mir von den anderen, dass jeder so seine Probleme gehabt hatte und manche ganz bewusst die Strasse gewählt haben.
Ob diese Geschichten alle stimmen, weiß ich nicht, aber seitdem ich sie gehört habe, sind diese Menschen für mich keine Penner mehr, sondern eben Strandgut; am Umgang mit ihnen macht sich für mich der Wert einer Gesellschaft fest.“
Sie rutschte vollkommen in ein inneres Nachdenken, die Sprache verebbte und sie schwieg einige Zeit, bevor in ihre Gesichtszüge wieder Spannung einkehrte, „am besten, ich zeige dir einfach, wo mir der Tote häufig begegnete, es ist in den Feldern, und außerdem muss mein Hund noch dringend vor die Tür!“ Beim letzten Teil des Satzes hatte sie wieder die alte Souveränität erlangt, die Dittrich so faszinierte.
Sie liefen durch den Garten über die Felder, hinüber zu einem Damm. Die Sonne war beinahe vollständig hinter dem Höhenzug des Barnims verschwunden, der am Horizont hinter Wriezen das Terrain begrenzte und so der Endlosigkeit einen Halt gab. Zartes Abendrot spielte arglos zum letzten Mal für heute mit dem flachen Land.
Diese endlosen Weiten, diese aufgepflügten Felder, aus denen feiner Regennebel dampfte, schläferten die Probleme des Tages sacht ein.
Dittrich fröstelte, Rosa tänzelte über die Erdschollen, kam ins rutschen und hielt sich an seinem Arm fest.
Später saßen sie am Esstisch bei Rosas Interpretation einer italienischen Auflaufpfanne.
„Warum bist du überhaupt hierher gezogen?“, wollte Dittrich von ihr wissen. Das DU kam ihm noch schwer über die Lippen. Eigentlich war ihm nichts lieber als diese Frau an seiner Seite zu duzen, aber er ärgerte sich ein bisschen, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war, ihr als der Ältere die vertrauliche Anrede anzubieten. Mit denen, die er bisher geduzt hatte, war er solche Wege wie heute jedenfalls noch nicht gegangen.
„Ach, na ja, meine Eltern haben mir ein Teil meines Erbes schon im Voraus ausgezahlt. Ich wollte unbedingt ein Haus im Oderbruch, und nun wohne ich hier mit Mühen, und die sind erheblich. Fast jeden Tag muss ich nach Berlin fahren, denn hier in der Umgebung gibt es für mich keine Arbeit. Doch die Fahrerei müssen hier viele täglich auf sich nehmen, die sind noch viel schlimmer dran, um vier Uhr morgens rollt hier der Verkehr.“
„Was machst du eigentlich beruflich“, fragte Dittrich voller Neugierde weiter, denn dieser Anfang klang ganz anders als die Lebenswelten seines bisherigen Umfelds.
„Ich habe so schöne Sachen wie Sprachen und romanische Literatur studiert, ziemlich viele Jahre lang, dann noch Bibliothekswesen, bis es mir, als ich um die Dreißig war, meinen Eltern gegenüber zu peinlich wurde, ihnen noch länger zur Last zu fallen. Ich baute ein kleines Buchgeschäft auf, und jetzt arbeite ich drei Tage in der Woche im Mauermuseum. Das ist nichts bedeutendes, ich bin dort das Mädchen für alles“, mit einem Seufzer endete sie: “doch ich habe den Kopf frei.“ Sie schwieg und es schien Dittrich, als sei ihr die Situation peinlich. Also fragte er für den Moment nicht weiter. Aber es war ihm wichtig zu erfahren, woher solch ein Mensch kommt und was er macht, der so ganz anders lebt als er. Er hatte wahrscheinlich durch Zufall einen wunden Punkt in ihr berührt.
„Was denkst du über den Toten?“, wechselte sie nach einem kurzen Schweigen das Thema. Über den Themenwechsel war Dittrich erleichtert. Einerseits wollte er alles Mögliche von Rosa wissen und am liebsten ein normaler Gesprächspartner für sie sein, mit dem man über persönliche Dinge sprechen kann, andererseits fürchtete er die Gegenfragen, die er mit jeder Frage provozierte. Sollte er dann etwa die Wahrheit sagen? Diese Frau würde sich garantiert von ihm abwenden und ihm schlimmstenfalls den Fall und damit sein Honorar entziehen.
Deshalb blieb er lieber bei dem Fall: „Der Tote muss ein interessanter Mensch gewesen sein! Bisher ist mir nicht klar, wer an seinem Tod Interesse gehabt haben sollte. Er wurde doch neben der Parkbank mit aufgeschlagenem Schädel gefunden. Vielleicht war er doch nur besoffen und ist gestürzt.“
„Die Polizei sieht es leider genauso. Sie haben seinen Tod gar nicht untersucht, sondern ihn schon zwei Tage später zur Einäscherung frei gegeben. Aber ich habe einen seiner Banknachbarn befragt und der schwor, dass er, nachdem sie bis abends gegen 19 Uhr gesessen haben, mit seinen Sachen weggegangen ist und noch meinte, er hätte jetzt einen Schlafplatz mit Dach und festen Wänden, fast wie ein richtiges zu Hause. Sie können ja selbst mit den Leuten sprechen. Jedenfalls hat keiner etwas von einem Sturz gesehen. Er war auch nicht so betrunken, denn er soll bei seiner „Penne“ noch etwas vorgehabt haben.“
Dittrich ahnte, das ihn der Fall überfordern könnte, doch in der Aufklärung sah er die einzige Chance, in der Nähe dieser Frau zu bleiben und mit ihr ein paar schöne Momente für sich zu erleben. Außerdem schaute sie ihn immer wieder mit grenzenlosem Vertrauen an. Er wollte sie nicht enttäuschen!

Herbst
Als Adamky morgens im Wohnzimmer aufwachte, drückte der Ostwind auf die Fensterläden. Der Wind blies unaufhörlich und scharf.
Er lag rücklings auf dem Sofa. Überall im Haus knarrte es. Er fühlte sich wie ein Ladenhüter im Sonderangebot, und über seinen Körper schienen Heerscharen von Ameisen zu krabbeln.