Ein neues Lebensgefühl für alle. Man sitzt zu Hause und darf nicht das Übliche mehr tun. Isoliert. Jeder für sich in seiner Wohnung. Panik. „Wir arbeiten im home-office“. Komisch ist es schon. Die Produktion darf weiter betrieben werden und ich kann einkaufen gehen.
Für mich ist es eine wundervolle Zeit. Das gesellschaftliche Leben ist so beeinträchtigt, eingeschränkt wie ich bereits seit 20 Jahren lebe. Endlich kann ich meine Umgebung beobachten wie sie nervös, hysterisch und irritiert mit ihren Einschränkungen umgeht. Jammerlappen sind das. Solche Leute wie diese haben mich jahrelang meine Einschränkungen spüren lassen. Du bist nicht so wie wir, Du passt nicht mehr in unsere Welt! Man definiert sich über Arbeit, Freunde, Kontakte, Freizeitaktivitäten. Ordentliche Menschen haben nützlich zu sein! Und nun laufen sie wie Ameisen herum, denen man ihren Hügel zerstört hat, völlig irre. Eine Gesellschaft mit ADHS-Syndrom. Die Presse, die Nachrichten, das Netz ruft bei jeder kleinsten Verringerung der Anzahl von Neuinfizierten und Totenzahlen reflexartig nach einer Lockerung der bescheidenen Maßnahmen. Ist aufgeregt. So wie euch geht es mir seit 20 Jahren, nur ihr habt euren Ausnahmezustand und ich musste mit eurer Wertetabelle herumlaufen. Ihr habt mich bewertet. Und jetzt bewerte ich euch: Mangelhaft, erbärmlich. Endlich, zumindest für die kurze Zeit der Einschränkung durch die Pandemie, sind wir gleich, ihr benehmt euch genau so behindert wie ihr mich abgetan habt. Ich genieße die Zeit. Barbara ist endlich auch zu Hause. Wir haben viel Zeit für uns. Wir setzen Ideen um. Wir können nach Innen gehen, neue Seiten in uns erforschen. Wir haben Zeit.
20 Jahre mußte ich mich ständig und teilweise kurios um ein vermeintlich sinnerfülltes Leben bemühen, damit ihr mich akzeptiert. Jetzt ist es an euch mit der Arbeitslosigkeit und dem home office, mit der Ungewissheit klar zu kommen, Euch ein sinnvolles Leben zu geben. Ich habe es und es wird nun immer besser.
Ich genieße es so lange der Zustand anhält. Und der Tod? Ja dem muss ich schon seit langem ins Auge schauen. Der kommt wann er will, doch bis dahin ist es wunderbar. Um was geht es eigentlich? Ihr habt zu essen, ihr habt zu trinken. Ihr könnt auf euch aufpassen und rücksichtsvoll dem anderen gegenüber sein. Ich wache auf, was für ein Tag, jetzt meditieren und dann habe ich frei – keine Erwartung, kein Druck, nur überquellende Gedanken.
Mütter zogen über Jahre ihre Kinder auf Distanz von mir weg, damit sie sich nicht anstecken an meiner MS. Wie albern. Jetzt halte ich Distanz. Und Hände habe ich nicht gegeben, mit Handschuhen mich geschützt, nur widerstrebend umarmen lassen, wegen der Hygiene. Jetzt ist es normal. Gut so. Jetzt bin ich nicht mehr allein. Meine Art war nie persönlich gemeint. Ich bin nur vorsichtig.
5.4.2020