(Alltagszenen)
Genau in dem Moment, als ich glücklos in Berlin nach Theaterinformationen krame, um mein Bild über die Theaterlandschaft zu vervollständigen, treffe ich Ulli. Ich klage ihm mein Leid, dass mich ein Dramatiker und Regisseur zum x-ten Mal versetzt hat, der maßgeblich an einem Autorentheater-Projekt mitgearbeitet hat. Diese Idee, die dann doch „aus bürokratischen Gründen“ scheiterte, wollte ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen machen, den Dramatiker befragen – mit großer Wahrscheinlichkeit wäre ich allerdings dann kaum aus Berlin herausgekommen, hätte so mein Thema verfehlt.
Wenn sich einer auskennt, dann er, der seit Jahren freischaffend als Pantomime, Bewegungslehrer und Regisseur durch das Land reist auf der Suche nach Engagements.
Das wird mir klar als mich Ulli aufklärt: Ich wäre da zwischen eine der vielen Intrigen geraten. Und lakonisch stellt er fest: Das wahre Theater findet sowieso in der Provinz statt!
Ulli lädt mich zu einer Fahrt in seinem „Wartburg Tourist“ ein, um mich selbst davon zu überzeugen.
In der „BZ am Abend“ lese ich eine Theaterbemerkung: Nach zweieinhalb Stunden macht sich ein Zuschauer mit drastischen Zwischenrufen Luft. Er galt einem dieser zweifelhaften Spätimporte in denen sich manche unsere Theater derzeit gefallen: der Premiere “Warten auf Godot“ am Sonnabend. Samuel Becketts Absurdität, über die andernorts längst die Zeit hinweggegangen ist, nun als Novität in der Volksbühne.“
Ich denke an vertan’e Abende im „Berliner Ensemble“, dem Touristentheater, in dem sich noch immer Westjugendreisegruppen Brechts Lehrstücke anschauen, die im BE kaum mehr mitzuteilen haben, als das der Arbeiterklasse die Macht gehören muss – müsste. Ich denke an das Deutsche Theater, in dem sich zwischen aufwendigen Kulissen große Namen tummeln. Dort wird jeder Geheimtipp zur Seifenblase, zerplatzt ästhetisch – das Publikum jubelt.
Also bewege ich mich mit Ulli wenige Tage später Richtung Süd-Osten, nach Zittau.
Zittau
Alt, so scheint es mir in den Gassen der Altstadt, ist alles in Zittau. Barocke Bürgerhäuser, Renaissancekirchen, ein Gymnasium (gegr. 1586), klassizistische Prachtbauten – das erste Stadtbad Deutschlands-, Barockbrunnen; das steht so eng beieinander wie in Berlin die Plätze weit sind. Patina besetzter Glanz einer verlorenen Zeit. Baugerüste, vernagelte Türen, zerschlagene Fenster, hier und da wird rekonstruiert. Keine Zittauer Spezialität. Patinabesetzter Glanz einer verlorenen Zeit. Aus dem Lautsprecher eines Plattenladens plätschert böhmische Blasmusik. Die Passanten haben Zeit.
An den Stadtrand heran frisst sich der Tagebau, schlägt eine Schneise zum Erholungsgebiet Zittauer Gebirge und der Stadt. Für schlechte Braunkohle wird letztlich Leben zerstört– Smog so weit der Atem reicht. Die Schmalspurbahn ins Gebirge soll 1990 den Verkehr einstellen, bereits verkauft an Schweden, besagen die Gerüchte. Leben auf Braunkohle. Die Häuser am Markt sind nur übertüncht.
Die Lokalseite der Bezirkspresse gibt die Schlagzeile aus: Zittau schöner denn je!
Die junge Schauspielerin, bei der wir übernachten, wohnt in einer Seitengasse des Kleinstadtboulevards. Auch hier stehen Häuser leer, einige sind schon baupolizeilich gesperrt. Über einem bröckelnden Portal lese ich 1700.
Die Decke ihrer Wohnung zeigt zum Fenster hin Wasserflecke, auf dem Tisch steht eine Schüssel für den nächsten Regen. Die Toilette befindet sich in einem Bretterverschlag auf dem Flur – Trockenklosett, für Zittau normal. Bis 1945 besaßen die Fäkalienuhrunternehmer eine sehr starke Lobby im Zittauer Rathaus.
Die Notdurftsituation abseits der Kunst ist noch heute ein banales Indiz dafür. Nur vor über 40 Jahren war der Krieg zu Ende.
In der Küche steht eine Campingkochplatte, mehr darf nicht an die morsche Stromleitung angeschlossen werden. Das Händewaschen scheitert am fehlenden Wasserdruck.
„Ich gehe lieber im Theater mich waschen, da gibt es richtige Duschen und Toiletten“, erklärt mir die Schauspielerin und fügt hinzu, „dafür bekommt man in der Kantine nichts Warmes zu essen.“
Das Leben ein Provisorium.
Für die Ewigkeit gedacht dagegen das Theater: ein Nazibau. Als Grenzlandtheater OST eingeweiht, sollte es der groß-deutschen Kulturnation als Bollwerk dienen, genauso wie das Pendant im Saarland. Den Kronleuchter im Zuschauerraum spendierte Hitler, Goebbels hielt hier seine letzte Durchhalterede.
Ulli hat vor, in Zittau zu inszenieren. Deshalb will er sich hier Inszenierungen ansehen. „Die Todesfalle“ wird gespielt, als „Triller“ angekündigt. Ein Versuch, wie auch andere Stücke auf dem Spielplan, dem Publikum kurzweil zu suggerieren. Das, was mit einem spannenden Stück bei einer miserablen Inszenierung einer einfallslosen Eigenregie einer Darstellerin möglich scheint, kommt in den spärlich gefüllten Zuschauerreihen gut an. Da rennt die regieführende, alternde Schauspielerin fast drei Minuten, bis auf den Slip entkleidet, um einen Tisch herum. Ihr hinterher ein junger Typ, der sie vergewaltigen soll. Ich erfahre, dass sich diese Frau immer auf der Bühne ausziehen will. Wenn sie es nicht darf, taugt gleich der Regisseur nichts.
Unsere Begleiterin wirkt niedergeschlagen. Jahre arbeitet sie schon hier, versucht sich immer neu zu motivieren. Doch irgendwann ist jeder Idealismus aufgebraucht.
„Vorige Spielzeit hättet ihr kommen müssen“, schwelgt sie in der Erinnerung, „da war Reinhard Hellmann Oberspielleiter. Der hat richtiges Theater gemacht. Als erstes setzte er Bewegungstraining an, brachte in erstaunlich kurzer Zeit das gesamte Ensemble auf Vordermann. Seine Konzeption begeisterte die jüngeren Schauspieler. Inhalte waren gefragt, politisches Theater. Die Stadtverwaltung zeigte sich vom „Schwitzbad“ oder der „Weißen Krankheit“ nicht begeistert, die Kreis-SED stand Kopf, das Publikum kam hingegen immer zahlreicher aus dem ganzen Land. Dann die vielen kleinen und großen Knüppel… Hellmann wurde geradezu weggeekelt von der neuen Intendanz, physische Drohungen zwielichtiger Bühnenarbeiter taten den Rest. Nachdem Hellmann die Stadt verlassen musste, wollten auch die jüngeren Schauspieler nicht bleiben.
Der Briefmarkenverbrauch für Bewerbungsschreiben erhöhte sich in Zittau. Übrig blieben die Alten, die schon andere Turbulenzen überstanden hatten, die in der Nobelgegend von Zittau in der Weinau Villen bewohnen und sich von Jedermann freundlich grüßen lassen.“
Auch unsere Bekannte hat ihr neues Engagement schon in der Tasche. Kein ganz großes Haus, aber in einer Stadt, in der zumindest die Lebensbedingungen besser sind. Hofft sie.
Ihm nach
Neugierig auf Hellmann fahre ich allein weiter. Ulli bleibt zurück. Er will noch Gespräche führen, obwohl er kaum eine Chance für sein Regiekonzept sieht. Nördlich von Berlin, nach Neustrelitz, hat es Reinhard Hellmann verschlagen. An einem Bezirkstheater macht er da weiter, wo er in Zittau aufhören musste. Die Nähe zu Berlin bringt eine aufgeschlossenere und tolerante Atmosphäre mit sich.
Bereits nach einer halben Spielzeit hat er das Ensemble auf seiner Seite. Das erste Projekt – Friedrich Wolfs „Professor Mamlock“ – gerät zum Erfolg. Fragen bewegen ihn wie: Was lässt der Mensch alles mit sich machen, wie kann sein Denken deformiert werden, wann schlägt der Ruf nach Ordnung und Disziplin ins Inhumane um. Welchen Defekt muss ein Gesellschaftssystem haben, wenn seine Führer auf Unfehlbarkeit bestehen. Fragen, die nicht nur etwas mit der Vergangenheit Friedrich Wolfs zu tun haben. Hellmann bleibt sich treu, hinterfragt unerbittlich, zeigt sich so ohne Substanzverlust aktuell, ohne modische Anspielung.
„Diktatur des Gewissens“ setzte er in seiner Zittauer Zeit sofort nach Erscheinen des Textes um, wie andere Bühnen in der „Provinz“ im Übrigen auch, lange bevor sich das Deutsche Theater in Berlin mit einer Extrabearbeitung zu einer dahinplätschernden Inszenierung bequemte.
Hellmann von seiner Leidenschaft gehetzt, inszeniert im 6 Wochenrhythmus, kaum mit einem Flop. Nebenbei schlägt er sich mit dem Organisationskram eines Oberspielleiters herum und kämpft mit den Politbehörden um seine Inszenierungen.
Wie lange geht das gut, fragt es in mir besorgt.
Das Publikum hat wenigstens seinen Spaß daran. Auch in Neustrelitz geht sein Konzept auf – durch anspruchsvolle Inszenierungen die Zuschauerzahlen steigern.
Neue Besen kehren gut
Unterwegs nach Dessau, einer mittleren Industriestadt zwischen Halle und Magdeburg. Kurz vor Kriegsende gab es hier einen reichlich Schutt erzeugenden Bombenangriff. Bis zu dem Zeitpunkt war Dessau ein romantisches Städtchen. Architektonische Kittversuche verhinderten nicht, dass die Bauhausstadt Dessau öd und langweilig erscheint. Erstaunlich, das es hier ein Theater gibt, viel zu groß im Verhältnis zur Einwohnerzahl und zu leer, nach Meinung der Schauspieler. Gleich drei Sparten werben um die Gunst des Zuschauers. Die Subventionen müssen enorm sein.
In Dessau bemüht sich in letzter Zeit noch ein anderes Haus um Profil. Das Bauhaus arbeitet gemeinsam mit dem Theater an einer Art szenischer Collage; der Text wird über Lautsprecher in den Raum gegeben, die Schauspieler reagieren gestisch.
Schwer vorstellbar, selbst nachdem es mir der junge Regisseur (ehemals Schauspieler, jetzt auch noch Dramatiker) erklärt. Er meint, es sei eigentlich nicht zu verstehen, drückt mir die Seiten Text in die Hand.
(Auszüge aus dem Manuskript)
So unverständlich, wie es der junge Regisseur möchte, erscheint mir der Text gar nicht. Geschichtsaufbereitung, der Weg der DDR seit 1945. Die simple Formel, auf die es reduziert wird, die freudsche Identitätsbewältigung zum Schluss, deutet mehr auf Hilflosigkeit als auf die Durchdringung des Themas hin. Prometheus wird benutzt, ganze Götterscharen an Stellen, wo zum Beispiel Heiner Müller schlicht bei den Vätern bleibt, und auch die Assoziationskette in 11 Gelenkstücke endet beim beklagten Tod des Widerstandskämpfers Numero p, so als sei Opferbringen bedeutungslos.
Fragen nach den Bedingungen für Widerstand, wann er entsteht und wie er sich äußert, werden nicht gestellt, damit wird auch eine gedankliche Weiterführung in heutige Problemkomplexe dem Rezipienten schwer gemacht. Vielmehr betreibt der Regisseur eine Negierung jeglichen Engagements, verfängt sich mit seiner Fantasie zwischen den „Mutterschenkeln“ und „es spritzt sein Geschlecht“.
Die Schauspieler freuen sich trotzdem, sind gespannt auf die Umsetzung, haben Heißhunger auf Neues. An ihnen liegt es nicht, dass die kreativen Ideen des Theaters verkümmern. Viele Schauspieler hätten genug Kraft, Fantasie, Spielfreude und handwerkliche Fähigkeiten für künstlerische Experimente.
Egal was die Bauhausinszenierung sein wird – Experiment oder Scharlatanerie – sie ist von einem Haus eingekauft, das Risiken eingeht, sich avantgardistischen Auffassungen öffnet, um aus dem Kleinstadtdunst der Bedeutungslosigkeit herauszutreten.
Fast ohne Chance
Ein Erlebnis fällt mir da ein: