Irgendwohin, von heute auf morgen. Hotelführerlotterie. Nach dem zwanzigsten Anruf hören wir auf zu zählen.
„Ist bei ihnen ein Zimmer frei? Nein, dann vielen Dank.
Weiter gewählt durch Mecklenburg und an der Küste entlang, durch Dörfer, Städte, Inseln.
Dann wie ein Schock, das Ja aus Güstrow, und zwei glückliche Menschen.
27. August, 16 Uhr. Die Wegekarte unterschlägt die Hotels. Der Nase nach zum Markt mit Kirche und Rathaus. Bis dorthin Fußgängerzone durch die Altstadt. Kleine Geschäfte und merkwürdige Auslagenkompositionen. Jugendmodebekleidung in einen Schal gewickelte „Yvette-Intimlotion“, im Drogeriefenster stehen zwei vergilbte Waschpulverpäckchen, „Milwok“ und „Gemol“, drei Kräuterflaschen und „Nova Zell“ Binden.
Das „lebe gesund“ Geschäft empfiehlt Spirituosen und Apfelsaftgetränke.
Vor uns das Hotel „Stadt Güstrow“. Ein Renomierbau der zwanziger und dreißiger Jahre, heute wächst Gras aus der Dachrinne. An der Rezeption erhalten wir unseren Schlüssel, mit dem Hinweis auf das Gemeinschaftsbad.
Erwartungsvolles Türe öffnen. Entsetzen. Ich setze mich auf einen Schaumstoff bezogenen Stuhl und sacke durch. Der Federboden fehlt. Vor uns das Doppelbett, Hotelstandart. Auf dem linken Nachttisch eine Lampe ohne Schirm, auf dem Rechten das Radio. Mozart auf Mittelwelle im nackten Licht.
Hinter dem wackligen Tisch zwei Liegen. Neben der Tür auf einer Anrichte, eine rosa und eine grüne Plastikschüssel, darüber ein „longlive-super 5“ Spiegel und davor liegt eine rotgeblühmte Badematte. Über allem Wasserflecken und von den Wänden fallen die Tapeten ab.
Barbara bekommt Appetit auf Kaffee und Kuchen. Zu spät, 17.30 Uhr schließen alle Cafes. Im Hotelrestaurant könnten wir Kaffee trinken, doch Kuchen gibt es nur zur Kuchenzeit und jetzt ist früher Abend, also Abendbrotzeit. Damit besteht in ganz Güstrow keine Chance mehr, in einer Gastsstätte zu rauchen. Güstrow ist eine gesunde Stadt.
Wir träumen uns durch die stillen Gassen, erkunden die Stadt. Wir sehen abrissbereite Häuser, rekonstruierte mit abgeplatzter Farbe, angetrunkene Passanten, junge Männer, Anfang Zwanzig, um die Dreißig, Aggressivität steht in ihren Gesichter.
Endlich sehen wir das Schloß, stehen im Hof und suchen vergeblich eine Informationstafel mit den wichtigsten Daten. Dafür gibt es ein geschlossenes Cafe, ein Nichtraucher-Grillrestaurant und eine Gaststätte.
Der Einführungstext auf der Speisekarte nimmt uns das schlechte Gewissen, vermittelt uns das Gefühl, doch noch am ersten Tag etwas für unsere Bildung getan zu haben.
Hungrig essen wir Tatar. Auf die extra Scheibe Brot warten wir zwanzig Minuten.
28. August, 6 Uhr morgens.
Kleiner Dialog unter unserem Fenster.
„Ich sage doch auch nicht zu dir, du kleiner, dicker Fetter.“
Die Antwort kommt nordisch trocken:
„Du Warzenschwein.“
Die Ausbesserungsarbeiten am Hotel haben begonnen. Auf dem Gang rennt ein Kind hin und her und spielt mit der Mutter einfangen.
Die Lebe noch einmal einfangen wird unmöglich. So frühstücken wir und rauchen unsere Morgenzigarette in einer Ecke im Foyer auf schmuddeligen Empfangssesseln.
Vor der Seitentür des Rathauses, auf dessen Balkon Schmidt und Honecker die Massen begrüßten und letzterer den berühmten Schneeball ins Volk warf, steht eine Streifenwagen und vor dem Eingang unter dem Schild „Polizeirevier“, hält ein Beamter gelangweilt Wache. Gemütlich schaut er in die Sonne, grüßt freundlich den übrig gebliebenen Bürger vom Vortag. Um diese Zeit passiert nichts und wo er steht schon gar nichts. In Güstrow ist die Welt noch heil.
Das Gemeinschaftsbad schimmelt so vor sic hin, der Schwamm wächst an den rohen Wänden und vor der Wann liegt ein nasses Handtuch als Fußunterlage. Barbara hatte sich abends und am Morgen geekelt, ich nahm es eher fatalistisch, durch meine Erinnerung an Armeelatrinen und dem Waschgenuss in meiner Berliner Feuchtwohnung. Deshalb führt unser Weg, der heimischen Gewohnheit folgend, zur Hygieneinspektion. Dampf ablassen. Die Eingabe wird verständnisvoll entgegengenommen. Bearbeitet? Wer weiß. Vielleicht will morgen die Kollegin im Hotel zu Abend essen, oder der Bruder, die Mutter, die Tante arbeiten dort. Krähen hacken einander kein Auge aus.
Und wir sind befriedigt, schließlich lassen wir uns nicht alles gefallen.
Danach begegnen wir Güstrow gelassener. Der Weg führt uns wieder durch die schmalen Gassen, an geschäftigen Menschen vorbei, die dennoch Zeit für ein Gespräch mit dem Nachbarn finden. Die noch am Vortag empfundene Brutalität im Umgang der Güstrower miteinander, mildert sich zur raubeinigen Herzlichkeit.
Zwei alte Männer kommen wie Kampfhähne aufeinander zu, boxen sich gegenseitig vor die Brust, drohen wie Halbstarke, lachen dann und umarmen sich.
Gestern noch hätten wir an eine Schlägerei geglaubt.
Außerhalb von Berlin üben Buchläden immer einen Reiz aus. Man findet begehrte Schriftsteller unbeachtet, die Daheim nur unter dem Ladentisch für gute Bekannte liegen.
Wir machen Beute und werden noch leichter als Touristen ausgemacht, genauso wie ein Güstrower in Berlin, der das Netz voller „Spee“ Packungen und Erdnusflips trägt. Trotz des Erfolgserlebnisses beschließen wir, am nächsten Morgen abzureisen. Das glitschige Gefühl unter Barbaras Füßen im Gemeinschaftsbad entscheidet. Wir bezahlen als zwei friedliche Bürger.
Danach besiegt uns die Neugierde, wir unterliegen der Anziehungskraft von Barlachs schwebenden Engel.
Schweigend stehen wir in der gotischen Backsteinkirche, sehen das Altarbild, die zwölf Apostel im Kirchenschiff, lebendig geschnitzt. Und hinten endlich Barlachs Engel. Mühelos schwebend, leicht, schmerzvoll und zugleich freundlich dringt er in uns, beseelt, rüttelt uns wach. In ihm liegt das Leid und das Glück des Menschsein.
Der Küster ruft uns zurück zum Ausgang.
Erst später, auf einer Bank bei den Stadtteichen, kehren wir aus unserem Taumel zurück. Die Sonne sinkt blutrot in die Wälder. Entenschnattern. Auf der anderen Seite des Teiches knattert ein Moped. Ein Mann sitzt unter einer Eiche, holt aus seinem Beutel eine Flasche Korn, trikt ein, zwei tiefe Züge wie Wasser, verschließt die Flasche sorgsam, raucht eine Zigarre und öffnet erneut die Flasche.
Güstrow ist plötzlich schön.
29. August.
Mit dem Berufsverkehr unterwegs nach Stralsund. Die sicherste Methode pünktlich zu reisen.
Barbara hatte noch nie Hiddensee gesehen. Die letzte Frühfähre bringt uns auf die Insel.
An nur einem Tag die Insel erleben grenzt an Vergewaltigung. Aber selbst für wenige Stunden, nur für einen Augenblick, lohnen die Strapazen, um diese Faszination zu spüren, um sagen zu müssen, ich komme wieder.
Barbara ergeht es ebenso. Wie viele mögen schon beim ersten auf das Inselland die Beine gezittert haben und wem sind nicht die Tränen einfach so gerollt, bei seiner ersten Begegnung mit dem offenen Meer, westseits?
Wir ziehen im Strom der Tagesausflügler zur Steilküste, besichtigen Felsensteins Grab. Aus der kleinen Kirche dringt uns süßlicher Geruch entgegen. Vor dem Altar steht ein Sarg, pietätvoll mit Kränzen und Blumengebinden geschmückt und von unbeeindruckten Touristen umgeben.
Der Tod hat uns verschreckt, wir verlassen die Urlauberkirche mit Gemeindepflichten. Stunden später begegnen wir der Trauergemeinde nach dem Leichenschmaus. Die alten Fischer tragen schwarze Ledermützen und derbe wollne Jacken as Gruß für einen der ihren.
Am nächsten Tag wollen wir wiederkommen. In Stralsund suchen wir vergeblich ein Zimmer. Die Hotels sind belegt. Ich erinnere mich an eine Frau, bei der ich vor Jahren unterkam. Sofort finden wir das Haus am Altmarkt, ihr Name steht noch an der Tür. Parfümgerüche begleiten unseren Weg die Treppe hinauf. In der Küche hören wir Stimmen.
„Für letzte Nacht bekomme ich noch zwanzig Mark von Dir“
Im gebrochenen Deutsch kommt die Antwort: „Ja, Mutti, die bekommen du noch, morgen.“
Das sind dann insgesamt schon sechzig Mark, vergiß das nicht, du Schlingel.
Zuversichtlich klopfen wir an die Tür, in der Annahme, dass ein Zimmer frei wird. Jedoch erscheint uns der Preis zu hoch. Privat vermietet kostet da Bett pro Nacht nicht mehr als zehn Mark.
Vor uns steht „Mutti“ und ein kleiner, drahtiger Algerier mit blitzenden Augen und verschlagenen Blick. Die Frau und er schauen uns konspirativ an. Scheinheilig verneint sie unsere Frage und meint, das alle Zimmer vergeben seien. Dabei tätschelt sie die Killervisage des Kameltreibers, der die Gelegenheit nutzt, zu verschwinden. „Also Mutti, ich gehen dann.“
Geschäftstüchtig prüft sie unsere Bekleidung und interessiert sich für herkommen. Nach unserer ehrlichen Antwort verneint sie erneut.
Auf dem Treppenflur kommt ein Araber aus einem Zimmer. Durch den Türschlitz entdecken wir auf einem muffigen Sofa einen anderen arabischen Märchenprinzen, im Arm eine blondierte Provinzfee.
Es hilft nichts. Der letzte Zug nach Berlin ist unser. Doch wir werden wiederkommen, uns Zeit nehmen für Barlachs Engel und für Hiddensee im Herbst. Geplant natürlich.
1985